Glossar Soziologie der Nachhaltigkeit
Wissen
Nachhaltige Entwicklung ist eine wissensintensive Angelegenheit. Große Mengen heterogenen Wissens müssen produziert, sortiert, kommuniziert und praktisch wirksam gemacht werden. Da es sich hierbei zugleich um wert- und interessensbezogene Relationen handelt, weisen Fragen des Wissens im Kontext der Nachhaltigkeit eine politisch-epistemologische Qualität auf.
Einführung
Im Zuge der wissensgesellschaftlichen Entwicklung hat generell die Bedeutung von Wissen und Expertise zugenommen. Zugleich lässt sich jedoch an drei Umständen aufzeigen, dass Nachhaltige Entwicklung die Frage nach dem Wissen auf eine besondere Weise herausfordert. Erstens geht mit Nachhaltiger Entwicklung die Konfrontation mit ganz unterschiedlichen Wissensformen und -beständen einher. Die Inklusion heterogenen Wissens stellt mithin eine Schlüsselaufgabe für Prozesse Nachhaltiger Entwicklung dar. Nicht zufällig wird ein eigenständiger Typus des Forschens, transformatives Forschen, für eine solche Entwicklung gefordert. Dabei entstehen auch neue Wissensinfrastrukturen wie Reallabore. Zweitens verbindet sich mit Nachhaltiger Entwicklung ein ganz neues Ausmaß an Wissensintensität. Betrachtet man etwa die Sustainable Development Goals, dann bedeutet der Anspruch auf das Einlösen dieser Ziele, dass sie messbar gemacht werden müssen – und zwar weltweit einheitlich. 231 Indikatoren bilden das Gerüst. Die kollektive Wissens-Selbst-Zumutung, die darin liegt, im Anthropozän im Grunde alles über den Weltzustand zu wissen, um handlungsfähig zu sein und zu bleiben, ist präzedenzlos. Drittens müssen Diskurse um Nachhaltige Entwicklung als politische Diskurse verstanden werden. Die Vorstellung von oder gar der Wille zu einem einheitlichen Konzept nachhaltiger Entwicklung entpuppt sich als eine expertokratische Fiktion. Vielmehr ist das Leitbild der Nachhaltigkeit unabweisbar normativ. Mit ihm werden Fragen des «Guten Lebens» verhandelt. Und das ist nicht etwa eine Schwäche, sondern vielmehr eine Stärke des Leitbilds der Nachhaltigkeit. Um das zu erkennen, muss das Wissen der Nachhaltigkeit jedoch in seinen vielschichtigen Relationen präziser verstanden werden. Andernfalls drohen autoritäre Vereindeutigungen durch Wissen oder relativistische Verharmlosungen im Wissen.
Begriff/Definitionen
Wissen, obgleich zentraler Begriff der Wissenschaft, gehört zugleich zu den umstrittensten und deutungsbedürftigsten Begriffen von Wissenschaft. Mit der wissensgesellschaftlichen Entwicklung (z.B. Stehr 2001), in der Wissen nicht nur neben Boden und Kapital zu einer weiteren Produktivkraft wurde, sondern mehr noch zum zentralen Medium der Vergesellschaftung, hat sich diese Deutungsbedürftigkeit nicht verringert – eher im Gegenteil. Niklas Luhmann (1994) betonte im Wissen den Aspekt des Lernens, das er als lernbereite, „enttäuschungsbereite“ Erwartungen definierte. Im Gegensatz zu Normen – an denen auch im Enttäuschungsfall festgehalten wird – ist Wissen durch einen kognitiven Erwartungsstil gekennzeichnet, bei dem Erwartungen angepasst werden können, falls es Sachverhalte gibt, die diese widerlegen können. Wissen zeichnet sich also dadurch aus, generell auf den Prüfstand gestellt werden zu können. Wissen wird dadurch mit Geltungsansprüchen versehen (Bora 2009: 27). Der Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis markiert den Anspruch, über methodisch gesichertes, falsifikationsfähiges, also in seiner Entstehung erklärbares Wissen zu verfügen. Mit Blick auf den Zusammenhang von Wissen und Nachhaltigkeit zeigt sich nun, dass neben Erkenntnis viele weitere Geltungsansprüche relevant werden, weil Nachhaltige Entwicklung eine tiefgreifende Transformation des Kollektivs und damit letztlich seiner Wissensbestände in allen nur denkbaren Facetten bedeutet.
Dies findet sich in der Nachhaltigkeits- bzw. Transformationsforschung typischerweise als Differenz zwischen drei Wissensformen (Vilsmaier/Lang 2014). Erstens Systemwissen, worunter empirische Untersuchungen des Ist-Zustands verstanden werden. Darin spiegelt sich gleichsam das wider, was landläufig als Erkenntnis verstanden wird. Entsprechend wird dies oftmals exklusiv als Wissen der Expert*innen verstanden und somit expertokratisch verkürzt. Aussagen sind dann etwa: Das Wissen ist da, es geht nur noch um die Umsetzung. Das trifft nur aus einem begrenzten Blickwinkel zu. Zweitens Orientierungswissen, wobei es darum geht, Ziele gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu artikulieren und zudem zu begründen. Auf diese Weise können Wegmarken entstehen. So ist das bei den Sustainable Development Goals, die 17 Ziele formulieren und als Orientierungshilfe für die Transformation dienen. Drittens Transformationswissen. Bei dieser Wissensform stehen die praktischen Mittel für die Realisierung von Zielvorstellungen Nachhaltiger Entwicklung im Zentrum, gleich welcher Quelle (politisch, technisch, rechtlich, kulturell, ökonomisch u.a.) sie sich verdanken. Auf diese Weise entstehen epistemologisch komplexe Wissenslagen (vgl. Krohn et al. 2017).
Grundlegend argumentiert unterscheidet sich Wissen von anderen kulturellen Schemata durch die Gewissheit, dass sich unsere Vorstellungen auf eine Wirklichkeit beziehen, die unabhängig von unserem Denken existiert. Wissen kann mithin für ein Sinnrepertoire der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit stehen (Berger/Luckmann 1999). Es bezieht sich letztlich auf eine „Wirklichkeit“, welche durch intersubjektiv geteilte, überprüf- und falsifizierbare Aussagen adressierbar ist. Zwar erleben Menschen keinesfalls das Gleiche, aber sie können sich ihre Erlebnisse wechselseitig ansichtig machen und auf diese Weise gemeinsame, u.U. geteilte Vorstellungen von „Wirklichkeit“ erarbeiten. Diese Plastizität der Wirklichkeitsrelation stellt die Voraussetzung wie Notwendigkeit von Lernen dar. Die Angemessenheit (die „Wahrheit“) einer Vorstellung lässt sich aufgrund ihrer Bewährung in der Praxis beurteilen. Der entscheidende Punkt dabei in puncto Wirklichkeitsrelation besteht darin, dass die Welt unsere Überzeugungen einschränkt, ohne sie eindeutig zu bestätigen (Dupré 1993). Bestätigungen bleiben letztlich immer nur vorläufig, Anlässe für Überraschungen können jederzeit auftreten. Das bedeutet jedoch nicht, dass stabile „Wissensbestände“ eine Fiktion sind. Der entscheidende Punkt ist, dass sich die Voraussetzungen zur Stabilisierung von Wissensbeständen unter Bedingungen nachhaltiger Entwicklung deutlich anspruchsvoller gestalten, weil die drei zentralen Wissensformen kontinuierlich synchronisiert werden müssen.
Somit lässt sich zunächst festhalten: (a) Wirklichkeitsrelationen erscheinen als Wissen, obgleich sie typischerweise nicht ohne Brüche sind, da es keinen unmittelbaren Zugang zur Welt gibt; vielmehr wird der Wirklichkeitsbezug durch ein Ausschlussverfahren von nicht funktionierenden Vermutungen gesichert; (b) Bei der Frage des Wissens spielen deshalb unterschiedliche Modalitäten von „Für-Wahr-Haltungen“ (Zittel 2014) eine wesentliche Rolle. Es gibt verschiedene Ordnungen des Rechtfertigens von Wissen, welche den Charakter der Für-Wahr-Haltungen bestimmen; so erscheint das zu betrachtende Phänomen im Spiegel der jeweiligen Perspektiven ganz unterschiedlich; (c) Bei Nachhaltigkeitswissen kommt solchen Für-Wahr-Haltungen insofern noch einmal eine spezifische Bedeutung zu, als sie nicht allein Systemwissen verkörpern, sondern Orientierungs- und Transformationswissen zugleich beinhalten; dies bedeutet jedoch nicht, dass Wissen (d) nicht als Erkenntnis stabilisiert und damit allgemeingültig gemacht werden könnte, die Voraussetzungen dafür sind jedoch anspruchsvoller geworden und es bedarf deshalb neben akademischer Wissenschaft eigener Wissensinstitutionen zur Sicherung von Wissensbeständen.
Nachhaltigkeitswissen
Ein wesentliches Merkmal von Wissen im Kontext Nachhaltiger Entwicklung besteht darin, dass es nicht allein ein Wissen über den Zustand der Welt in Bezug auf nachhaltige Entwicklung darstellt, sondern zugleich ein stark auf Prozesse abzielendes Wissen ist – und auch sein muss, damit die angesprochenen Synchronisierungsleistungen erbracht werden können. Und entscheidend hierbei ist, dass in solchen Prozessen ganz heterogene Wissensbestände mobilisiert werden müssen. Die Normativität und Gestaltungsfrage im Wissen erzeugen auch innerhalb des Feldes immer wieder einen fortlaufenden Disput (Henkel et al. 2021; Brand 2022) bzw. das Erfordernis der Selbst-Orientierung (Holden et al. 2014). Dies lässt sich aber auch aus der Verknüpfung von Wissenschaft mit anderen Feldern heraus sagen. Denn hier erscheinen dann die vielschichtigen politisch-epistemologischen Fragen des Wissens und der Praxis politischer Mobilisierung für Nachhaltigkeit (z.B. mit Blick auf die Lokale Agenda 21, Brand/Warsewa 2003). Und es wird deutlich, dass Nachhaltigkeit im öffentlich-politischen Diskurs nicht vereinheitlichend, sondern als Versammlung von Vielfalt funktioniert (Grunwald 2015). Somit gibt es eben nicht eine Form von Nachhaltigkeit, sondern eine sehr große Bandbreite von Varianten des „Doing Sustainability“ (Böschen 2021), die nicht mit einer Idee der Nachhaltigkeit überprüft werden können. Daher war die Suche nach Grundbegriffen zur eigenen Selbstverständigung in der Nachhaltigkeitsforschung schon immer eine relevante wie paradoxe Aufgabe, so etwa bei der Analyse „Gesellschaftlicher Naturverhältnisse“ (aktueller Überblick: Hummel et al. 2023). Im Folgenden sollen Herausforderungen der Synchronisierung von System-, Orientierungs- und Transformationswissen näher spezifiziert werden.
Die Bestimmung von Systemwissen im Kontext von Nachhaltigkeit steht vor der großen Aufgabe, Über-Komplexität zu bearbeiten. Nicht zufällig werden zur Bewältigung dieser epistemischen Komplexität vielfach digitale Tools eingesetzt. Damit werden zwar Wissensprobleme gelöst, zugleich aber neue aufgeworfen. So etwa fördert „Daten-Fülle“ einen „Datenobjektivismus“, wonach Daten als „neutraler“ Makler zwischen Wissensansprüchen fungieren. In den Daten, so nehmen manche an, liege die objektive Wahrheit, die dann einen Schiedsspruch zwischen den artikulierten Wissensansprüchen begründen können müsse. Daten sind aber modelliertes Wissen und nicht umstandslos aus den sie erzeugenden Wissensschemata herauszupräparieren. Deshalb ist für das Verständnis von Nachhaltigkeitswissen eine Differenzierung zwischen Daten, Information und Wissen relevant. Daten sind nicht einfach Abbild von Wirklichkeit als vielmehr ein Zeichen in Relation zur Wirklichkeit. Die relationale Beziehung zwischen zwei Datenpunkten erscheint als Information, denn in der gezielten Differenzsetzung markiert sich ein Unterschied, dem Bedeutung zugewiesen werden kann. Wissen schließlich stellt den Horizont dar, in dem Informationen gedeutet und Lernbereitschaften mobilisiert werden. Von daher stellt sich auch und gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung von Nachhaltigkeitswissen die Aufgabe, die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit von Systemwissen zu erhöhen. Andernfalls bleibt es für die unterschiedlichen Nutzer:innen dieses Wissens gleichsam eine black box.
Gerade im Kontext Nachhaltiger Entwicklung spielen normative Bezüge im Wissen eine wesentliche Rolle, um Orientierung zu stiften. Entsprechend werden mitunter konträre Framings angeboten, die Nachhaltigkeitswissen in den Kontext von ganz unterschiedlichen sozialen Problemen stellen, wie etwa der Steigerung ökonomischer Wohlfahrt im Sinne von Nachhaltigkeit oder der Behebung sozialer Ungleichheit als Nachhaltigkeitsaufgabe (Brocchi 2019). Dies zeigt sich etwa an der Problemstellung der Klimagerechtigkeit. Die Auswirkungen des Klimawandels sowie die Belastungen durch kollektive Bewältigungsstrategien bringen ganz neue Formen der Ungleichheit hervor. Eine wesentliche Bedeutung für die Produktion von Nachhaltigkeitswissen haben deshalb von Anfang an nicht-akademische Akteure, insbesondere solche der Zivilgesellschaft, eingenommen. Denn Nachhaltigkeit steht im engen Zusammenhang mit der Gestaltung alltäglicher Praxis. Wissen und Partizipation sind im Kontext der Nachhaltigkeit zwei Seiten einer Medaille. Denn die Frage der Orientierung wird in den vielgestaltigen Gefügen des Alltags aufgeworfen und beantwortet. Dabei kommt es vielfach zu spannungsreichen Lagen zwischen den durch Systemwissen bestimmten „objektiv“ zu erreichenden Zielgrößen (2°-Ziel) und deren Erreichung inmitten des Alltags.
Nachhaltigkeitswissen war deshalb immer schon Prozesswissen in Bezug auf anspruchsvolle Forschungsprozesse. Diesem wurde im Kontext von transdisziplinärer Forschung und Nachhaltigkeit viel Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Bergmann et al. 2021). Gegenwärtig erhält dies mit der Diskussion um Reallabore eine weitere Intensivierung (vgl. z.B. Parodi/Beecroft 2021). Dies weist zum einen in die Richtung von Realexperimenten, wobei hier also das Experiment als Entdeckungs- wie Überprüfungsverfahren genutzt wird. Dann aber geht es insbesondere auch, etwa in der Lesart von Parodi/Beecroft (2021) um Realexperimente als experimentelles Erschließen neuer Handlungsmöglichkeiten, also als Entdeckungs- und Gestaltungsverfahren. Es sind Orte der kollektiven Kooperation ganz unterschiedlicher Wissensakteure. Dabei geht es um die Formierung von Problemen selbst, wobei das Spektrum von gut strukturieren Problemen (Wissen und Werte sind kaum umstritten) bis hin zu schwer strukturierbaren Problemen (Wissen und Werte sind gleichermaßen hoch umstritten) (Hurlbert/Gupta 2015) reicht. Entscheidend ist hier jedenfalls, dass Reallabore als konkrete kollektive Orte der Artikulation und Synchronisierung von Systems-, Orientierungs- und Transformationswissen angesehen werden können.
Zudem werden durch die Nutzung von Wissen in den verschiedenen Organisationen der Gestaltung von Nachhaltigkeit, seien es politische Körperschaften, die Regulierungswissen zu Nachhaltigkeitszielen erstellen, seien es Unternehmen, die Reportingwissen zur Nachhaltigkeit der Organisation aufbereiten, eine jeweils kontextbezogene Wissensarbeit vollzogen. Zwar spielen hierbei Indikatoren die Rolle von Wissenseinheiten, die eine standardisierte Form versprechen. Aber zum einen ist das gemessene Wissen unterschiedlich erstellt, zum anderen geben die Indikatoren kein kohärentes Bild, sondern beeinflussen sich mitunter negativ, wie es etwa eindrücklich an den SDGs nachgewiesen werden kann. Insbesondere die Ziele 8 „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“ sowie 9 „Industrie, Innovation und Infrastruktur“ mit solchen des Naturschutzes kollidieren (Pradhan et al. 2017). Eine andere Entwicklung, die sich hier zeigt, ist der Einsatz von Indikatoren zu politischen Zwecken (etwa beim Greenwashing durch Nachhaltigkeitsreporting) oder die Positionierung politischer Auffassungen durch Indikatoren (Fall des „Ecomodernist Manifesto“, das im Namen der Nachhaltigkeit anhand der Indikatoren Landverbrauch der Erneuerbaren und deren mangelnde Energiedichte für den Ausbau von Atomkraft wirbt). Zugleich bringen diese Anforderungen spezifische Wissensaktivitäten auf Seiten der Nachhaltigkeits-Forschung in Gang, weil zum einen Wissenslücken sichtbar werden, wie z.B. in Bezug auf das Wissen um Biologische Vielfalt (Jetzkowitz 2023). Hier zeigt sich eindringlich die sehr hohe Wissensabhängigkeit solcher Prozesse mit der Konsequenz, dass im Medium des Wissens immer auch politische Fragen verhandelt werden und beides nicht umstandslos zu trennen ist.
So basieren Formen kompetenter Nachhaltigkeitsgovernance zwar auf (technischer) Expertise, zugleich werden dabei jedoch fundamentale demokratische Belange kollektiver Willensbildung und moralischer Selbstverständigung verhandelt. Diesen Grundanliegen entsprechen drei unterscheidbare Semantiken öffentlichen Sprechens (Böschen/Sigwart 2020: 20) Das politische Können setzt einen Fokus auf effiziente Entscheidung und Problemlösung, das politische Wollen legt den Akzent auf die Artikulation von differenten Wertperspektiven und Interessen für die politische Willensbildung und das politische Sollen schließlich umfasst die Artikulation von moralischen Beschränkungen kollektiver Willensbildung und Problemlösung. In diesem Sinne lässt sich das Feststellen von Verlässlichkeit des Wissens als eine sozio-epistemische Fixierung verstehen. Sie ist das Ergebnis eines Prozesses, bei dem Probleme von den beteiligten Akteuren je nach Position verschieden konstruiert, im Kollektiv schließlich konfiguriert und dabei zugleich Maßstäbe von Verlässlichkeit formiert werden. Problemstellungen des Nachhaltigkeitswissens sind mithin solche einer politischen Epistemologie von Nachhaltigkeit (vgl. grundlegend: Vogelmann 2022).
Ergebnisse/Anwendung
Es gibt nun eine Vielzahl von Aspekten, die für die künftige Forschung bedeutsam sind. Davon sollen drei herausgegriffen werden, weil sie wiederum das Erfordernis zur Synchronisation von Wissen mit Interessen und Normen verdeutlichen.
Erstens bedarf es einer verbesserten und epistemologisch reflektierten Wissensanalytik von Nachhaltigkeitswissen. Denn die Wissensintensität beim kollektiven Problemlösen nimmt unter dem Globalanspruch zu. Zugleich werden die Wissenslagen immer unübersichtlicher und das nicht nur aufgrund des Fehlens von Wissen, sondern mitunter auch wegen eines Überangebots an Wissen. Zudem steht das Wissen der Nachhaltigkeit in unauflösbar paradoxen Relationen von Faktenwissen, Orientierungswissen und Prozesswissen. Deshalb muss das Wissen der Nachhaltigkeit in seinen vielschichtigen Relationen präziser verstanden werden. Andernfalls drohen autoritäre Vereindeutigungen durch (System-)Wissen oder relativistische Verharmlosungen von Wissen durch Orientierungs- und Prozesswissen.
Zweitens zeigt sich, dass im Kontext der Adressierung und Lösung so genannter «Großer gesellschaftlicher Herausforderungen» den Universitäten eine neue Rolle zuwächst. Mit Ideen zu einer third mission gibt es zwar schon Ansätze zur unmittelbaren Kooperation mit Akteuren im jeweiligen regionalen Umfeld. Jedoch zeigt sich prägnant in Strukturwandelprozessen, wie sie gegenwärtig in der Lausitz und im Rheinischen Revier stattfinden, dass dabei gerade auch Technischen Universitäten (in dem einen Fall der BTU Cottbus, im anderen der RWTH Aachen) neue Rollen zukommen, um Strukturwandel zu gestalten (vgl. Herberg et al. 2021). Pointiert gesprochen gewinnen Formen einer „exzentrischen Wissensproduktion“ an Bedeutung. Dabei fungieren etwa Reallabore als Vermittlungsräume zwischen den Wissensakteuren der Region.
Drittens bleibt auch künftig die Aufgabe der Überwindung spezifischer expertokratischer Vorstellungen von gesellschaftlichem Wandel, bei denen das wissensgesellschaftliche Dispositiv performativ von einer Hierarchie geprägt wird, in der Expertensysteme eindeutig eine Überordnung gegenüber anderem Wissen zukommt. Entsprechend bedarf es neben der Fokussierung auf Wissen und dessen genaueres Verständnis für Nachhaltigkeitsprozesse einer institutionellen Maßnahmenphantasie zur Vermittlung zwischen Wissensansprüchen, Interessen und Normen der Nachhaltigkeit. Global geschieht das in den Science-Policy-Interfaces wie dem IPCC oder dem IPBES. Regional in Form von Reallaboren. Gleichwohl ist hier noch viel Entwicklungsarbeit vonnöten. Denn mit der Wissensintensität wächst auch die Konfliktintensität. Oder unterschiedliche Ansprüche nachhaltiger Entwicklung geraten in einen Konflikt (etwa Naturschutz versus Erneuerbare Energien). Nachhaltige Entwicklung muss deshalb als Aufforderung zur gezielten Weiterentwicklung von Demokratien verstanden werden, um kollektives, zukunftsfähiges Problemlösen mit der Nachhaltigkeitsentwicklung Schritt halten zu lassen und dafür zugleich Impulse zu setzen. Das bedeutet umgekehrt für die Nachhaltigkeitsforschung Fragen des Wissens als solche einer politischen Epistemologie zu behandeln.
Tipps zum Weiterlesen
Herberg, J./Staemmler, J./Nanz, P. [Hrsg.] (2021): Wissenschaft im Strukturwandel. München: oekom.
Krohn, W./Grunwald, A./Ukowitz, M. (2017): Transdisziplinäre Forschung revisited: Erkenntnisinteresse, Forschungsgegenstände, Wissensform und Methodologie. In: GAIA, 26. Jg., Heft 4, S. 341-347.
Vogelmann, F. (2022): Die Wirksamkeit des Wissens. Eine politische Epistemologie. Berlin: Suhrkamp.
Berger, P./Luckmann, Th. (1999): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklich-keit. Frankfurt a.M.: Fischer.
Bergmann, M./Schäpke, N./Marg, O./Stelzer, F. [Hrsg.] (2021): Transdisciplinary sustainability research in real-world labs – success factors and methods for change. In: Sustainability Science. DOI: https://doi.org/10.1007/s11625-020-00886-8.
Bora, A. (2009): Innovationsregulierung als Wissensregulierung. In: Eifert, M./Hoffmann-Riehm, W. [Hrsg.]: Innovationsfördernde Regulierung. Berlin: Duncker & Humblot, S. 23–43.
Böschen, S. (2021): Reallabore: Versammlungen unterschiedlicher Formen des Doing Sustainability verstehen – und gestalten. In: SONA [Hrsg.]: Soziologie der Nachhaltigkeit. Bielefeld: transcript, S. 285-295.
Böschen, S/Sigwart, H.-J. (2020): Demokratisierung von Technikfolgenabschätzung? Zum Problem der Verhältnisbestimmung von Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Expertise. In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, 29. Jg., Heft 3, S. 18-23.
Brand, K.-W. (2022): Nachhaltigkeitstransformationen im Schatten multipler Katastrophen Desiderate eines adäquaten Verständnisses sozial-ökologischer Transformationsdynamiken. In: Leviathan, 50. Jg., Heft 2, S. 263–278.
Brand, K.-W./Warsewa, G. (2003): Lokale Agenda 21: Perspektiven eines neuen Politiktypus. In: GAIA, 12 Jg., Heft 1, S. 15-23.
Brocchi, M. (2019): Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit. Wiesbaden: Springer VS.
Dupré, John (1993): The Disorder of Things. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Henkel, A./ Barth, Th./Koehrsen, J/Wendt, B./Besio, Chr./Block, K./böschen, St./Dickel, S./Görgen, B./Groß, M./Rödder, S./Pfister, Th. (2021): Intransparente Beliebigkeit oder produktive Vielfalt? Konturen einer Soziologie der Nachhaltigkeit. In: Leviathan, 49. Jg., Heft 2, S. 224–230.
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Holden, E./Linnerud, K./Banister, D. (2014): Sustainable development: Our Common Future revisited. In: Global Environmental Change, 26. Jg., S. 130–139.
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Hurlbert, M./Gupta, J. (2015): The split ladder of participation: A diagnostic, strategic, and evaluation tool to assess when participation is necessary. In: Environmental Science and Policy, 50. Jg., S. 100-113.
Jetzkowitz, J. (2023): Biologische Vielfalt in soziologischer Perspektive. In: Sonnberger, M./Bleicher, A./Groß, M.: Handbuch Umweltsoziologie. Wiesbaden: Springer. DOI: 10.1007/978-3-658-37222-4_22-1.
Krohn, W./Grunwald, A./Ukowitz, M. (2017): Transdisziplinäre Forschung revisited: Erkenntnisinteresse, Forschungsgegenstände, Wissensform und Methodologie. In: GAIA, 26. Jg., Heft 4, S. 341-347.
Luhmann, N. (1994): Die Wissenschaft der Gesellschaft. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Parodi, O./Beecroft, R. (2021). Reallabore als Möglichkeitsraum und Rahmen für Technikfolgenabschätzung. In: [Hrsg.] Böschen, S./Grunwald, A./ Krings, B.-J./Rösch, Chr.: Technikfolgenabschätzung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden: Nomos, S. 373-386.
Pradhan, P./Costa, L./Rybski, D./Lucht, W./ Kropp, J. P. (2017). A Systematic Study of Sustainable Development Goal (SDG) Interactions, Earth’s Future, 5 Jg., S. 1169–1179.
SONA (Netzwerk Soziologie der Nachhaltigkeit) [Hrsg.] (2021): Soziologie der Nachhaltigkeit. Bielefeld: transcript.
Stehr, N. (2001): Wissen und Wirtschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Vilsmaier, U./Lang, D. (2014): Transdisziplinäre Forschung. In: Heinrichs, H./Michelsen, G. [Hrsg.]: Nachhaltigkeitswissenschaften. Berlin: Springer, S. 87–114.
Vogelmann, F. (2022): Die Wirksamkeit des Wissens. Eine politische Epistemologie. Berlin: Suhrkamp.
Zittel, C. (2014): Wissenskulturen, Wissensgeschichte und historische Epistemologie. In: Rivista Internazionale di Filosofia e Psicologia, 5. Jg., Heft 1, S. 29-42.

Stefan Böschen ist Inhaber des Lehrstuhl für Technik und Gesellschaft an der RWTH Aachen