Tagungsberichte

Bericht zur Tagung „A Climate of (De-)Civilization? Shifting Dynamics between Nature and Society“ vom 12.-15. März 2025 an der TU Dortmund

Von Tom Lennart Ebener, Fynn Gutjahr, Jana Herms, Marcel Sebastian, Sarah von Querfurth und Jule Wilberg

Umweltfragen haben in der soziologischen Forschung und Theorie zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Prozess- und Figurationssoziologie von Norbert Elias erweist sich als fruchtbarer Boden für die Entwicklung von Denkwerkzeugen, Konzepten und Theorien zur Untersuchung von gesellschaftlich-ökologischen Beziehungen. Dennoch bleiben prozesssoziologische Perspektiven in der Umweltsoziologie und verwandten Disziplinen weitgehend unbekannt. Vor diesem Hintergrund organisierten Marta Bucholc (Universität Warschau), Debbie Kasper (Hiram College), André Saramago (Universität Coimbra) und Bernd Sommer (TU Dortmund) die internationale Tagung „A Climate of (De-)Civilization? Shifting Dynamics between Nature and Society“.

In ihrer Keynote „Colonialism as European De-Civilization: The Implications for Understanding Climate Catastrophe“ analysierte Gurminder Bhambra (Universität Sussex) die durch das Britische Empire ausgelösten Hungersnöte in Indien unter kolonialer Herrschaft. Sie zeigte aus postkolonialer Perspektive, wie die weiterhin bestehenden asymmetrischen globalen Strukturen sowie auf nationalstaatliche Aspekte verengte Problemwahrnehmungen und -lösungsstrategien in Zeiten der Klimakrise enorme Gefahren für Länder des globalen Südens mit sich bringen.

Der zweite Tag begann mit einem Panel zum Thema „Civilising/De-Civilising Processes“. Darin präsentierten zunächst Philip Koch, Martin Fritz, Jana Holz (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und Dennis Eversberg (Goethe-Universität Frankfurt) ihre empirische Forschung zu sozial-ökologischen Mentalitäten und hieraus entstehenden neuen Konfliktdynamiken in Deutschland. Sie argumentierten, dass durch das Erstarken eines der sozial-ökologischen Transformation ablehnend gegenüberstehenden Spektrums zunehmend Prozesse der Dezivilisierung sichtbar würden. Danach argumentierte Thore Prien (Europa-Universität Flensburg), dass die Zeit im Zuge der Entfaltung sozial-ökologischer Katastrophen ‚aus den Fugen geraten‘ sei: Die Utopie sei bereits verloren, die Vergangenheit biete keine Inspiration mehr und das Vertrauen in die staatlich organisierte Zukunft fehle. Matthias Schmelzer (Europa-Universität Flensburg) reflektierte in seinem Beitrag das Verhältnis von Klimakrise und Dezivilisierung. Er argumentierte, dass der wachstumsbasierte Zivilisationsprozess aufgrund des ökologischen Kollapses in einen Dezivilisationsprozess übergehe. Die laut Schmelzer notwendige kollektive Selbstbeschränkung durch Degrowth führe nicht in Prozesse der Dezivilisierung, sondern sei vielmehr prädestiniert, Dezivilisierungsprozesse zu unterbrechen.

Im darauffolgenden Panel zu „Violent Conflicts“ plädierte Adele Bianco (Universität Chieti-Pescara „Gabriele d’Annunzio“) dafür, ökologische Nachhaltigkeit als eine Dimension des Zivilisationsprozesses zu betrachten. Am Beispiel der Ukraine und des Gazastreifens zeigte sie, dass die Zerstörung der Natur elementarer Bestandteil von Kriegen sei. Kerrin Langer (TU Dortmund) und Frank Reichherzer (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) argumentierten, dass Kriegen ambivalente Prozesse der De-/Zivilisation inhärent seien. Während sie die militärische Gewalt als Zeichen der Dezivilisierung betrachteten, zeigten sie, dass die Anerkennung von Ökozid als Verbrechen im internationalen Recht auch Zivilisationsprozesse widerspiegele. Abiodun Paul Afolabi (Adekunle Ajasin University) veranschaulichte in seinem Vortrag das komplexe Zusammenspiel von Gewalt und Umweltzerstörung in Konflikten zwischen Farmer*innen und nomadischen Hirt*innen im Südwesten Nigerias. Diese Konflikte entstünden aufgrund des Wettbewerbs um Land und Ressourcen und hätten die vermehrte Ausbeutung der natürlichen Umwelt zur Folge.

In seiner Keynote „The Pitfalls of Transformation. On Precarious Figurations“ über die Herausforderungen nachhaltiger globaler Transformationsprozesse diagnostizierte Sighard Neckel (Universität Hamburg) ein Ausbleiben weitreichender, aber notwendiger Transformationsprozesse. Er zeichnete die Dynamiken von Zivilisierungs- und De-Zivilisierungsprozessen anhand der parallelen und einander bedingenden Entwicklung von Kapitalismus und Demokratie in der Moderne auf.

Das Panel zu „Contested Futures“ eröffneten Alissa Starodub und Sebastian Garbe (Hochschule Fulda) mit ihren empirischen Beobachtungen vom Leben in von Aktivist*innen besetzten Wäldern. Auf Basis posthumanistischer Theorie schlugen sie ein erweitertes Verständnis des Mensch-Natur-Verhältnisses als Alternative zu zunehmend katastrophischen Zukunftsvorstellungen vor. Daran anschließend plädierte Jessica Croteau (Johns Hopkins University) für eine kulturelle Transformation des Verständnisses von Verfall, den sie als essenziellen Entwicklungsprozess darstellte, da er neben der Dekonstruktion auch Basis der Konstruktion des Neuen sei.

Das Panel „Local (De-)Civilization“ begann mit einem Beitrag von Marta Gospordaczyk (Universität Warschau) über die Reaktionen polnischer Farmer*innen auf die sich verstärkenden Dürren. Mithilfe von Elias‘ Kontinuum von Engagement und Distanzierung zeigte sie auf, dass die von ihr befragten Landwirt*innen trotz starker emotionaler Involviertheit in ihre Betriebe die Wetterextreme häufig als Zwänge außerhalb menschlicher Kontrolle wahrnahmen. Stefan Sjöberg und Elvi Chang (Universität Gävle) stellten ihr Konzept der „ecosocial work“ vor. Phillip Altmann (Central University of Ecuador) thematisierte danach die Lebensrealitäten der indigenen Bevölkerung Ecuadors. Aus postkolonialer Perspektive beschrieb er den Widerstand gegen europäische Kultur als notwendigen Prozess der „De-Zivilisierung“, der einem Prozess der eigenmächtigen Re-Zivilisierung vorausgehe.

Der Konferenztag endete mit der Abendpräsentation „Complex Figurations – Risks, Alternatives and Proposal for Amazon Nature“ von Gláucio Campos Gomes de Matos (Federal University of Amazonas). Er thematisierte die Figurationen der lokalen Bevölkerung im Amazonas und der globalen Produktionsketten. Dabei zeigte er auf, wie das Amazonasgebiet durch den globalen Konsum zerstört wird und wie auf Basis indigener Traditionen dieser Umweltzerstörung entgegengewirkt werden könne.

Der dritte Tagungstag begann mit einem Panel über „Human/Non-Human Figurations”. Marcel Sebastian (TU Dortmund) diskutierte, wie sich die Gleichzeitigkeit von Eindämmung und Ausweitung von Gewalt gegen Tiere erklären lässt. Seit dem Übergang in die Spätmoderne, so seine These, habe die ambivalente Gleichzeitigkeit personalisierender und objektifizierender Beziehungen zu Tieren an gesellschaftlicher Legitimität verloren, sodass heute etwa Fleischkonsum zunehmend begründungswürdig werde. Danach argumentierten Waldek Rapior, Marta Gospodarczyk & Gabriela Jarzębowska (Universität Warschau), dass der zunehmende Einfluss der Tierrechtsbewegung zu einem neuen Legitimationsdruck auf die Jagd in Polen führe. Sie zeigten, wie Jäger*innen versuchten, sich gleichzeitig als Bewahrer*innen traditioneller Kulturpraxen, moderne Naturschützer*innen und Hüter*innen polnischen Nationalgefühls zu präsentieren. Abschließend stellte Jędrzej Kozak (Adam-Mickiewicz-Universität Posen) einen öffentlichen Diskurs in Polen über die angemessene Bezeichnung des Todes von Hunden vor. Während es zunehmend üblich werde, menschenbezogene Beschreibungen auf Hunde zu erweitern, wehrten Kritiker*innen dies als unzulässige Vermenschlichung ab.

Im Panel „Emotions & Knowledge“ diskutierte Marianna Kostecka (Adam-Mickiewicz-Universität Posen) das Phänomen der Flugscham in Polen. Sie beschrieb, dass insbesondere unter jüngeren Menschen eine Scham des Nicht-Fliegens existiere, da Fliegen als Ausdruck von Kosmopolität und persönlicher Reife gelte. Im Anschluss skizzierte Dieter Reicher (Universität Graz) eine Paradoxie des Zivilisationsprozesses: Während das Wissen über Naturzusammenhänge in den Gegenwartsgesellschaften vergleichsweise groß ist, sei es den Menschen mit fortschreitender Komplexität zunehmend unmöglich, die Dynamiken der gesellschaftlichen Entwicklung zu erfassen. Abschließend diskutierten Vincenzo Marasco und Angela Perulli (Universität Florenz) die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln in Bezug auf nachhaltige Ernährung. Sie betonten, dass Ernährung als wichtiger Teil des Habitus mit emotionalen Bindungen und Gefühlen kultureller Zugehörigkeit einhergehe, was als Erklärung für Barrieren der Verhaltensänderung fungieren könnte.

In der abschließenden Keynote „The Ecological Class: A New ‚Pivotal Class’“ stellte Nikolaj Schultz (Universität Kopenhagen) Thesen aus seinem gemeinsam mit Bruno Latour veröffentlichten Buch „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse – Ein Memorandum“ vor. Anstelle eines materiellen Klassenkonflikts über Produktionsmittel und Arbeitsverhältnisse seien für die ökologische Klasse vielmehr Überproduktion und ihre Folgen sowie die sich verändernden Umweltbedingungen konstitutiv.

Insgesamt gelang es den Organisator*innen der Tagung „A Climate of (De-)Civilization? Shifting Dynamics between Nature and Society“, die Vielfalt der an Norbert Elias‘ Prozess- und Figurationssoziologie angelehnten Forschung zu sozial-ökologischen Krisen und gesellschaftlichen Naturverhältnissen abzubilden. Durch die Einbindung sowohl etablierter als auch neuer Forschungsperspektiven entstand eine angeregte Debatte während und zwischen den Veranstaltungen.

Beitrag als PDF/DOI: