Bericht zur Konferenz „Reallabore – ExperimentierRäume für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft“: Ein Knotenpunkt der deutschsprachigen Reallaborforschung
In Kooperation mit dem Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“ richtete das Leibnitz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) vom 11. bis 12. April 2024 eine Konferenz im Deutschen Hygiene-Museum Dresden aus, die sich als Knotenpunkt der deutschsprachigen Reallaborforschung beschreiben lässt. Unter dem Titel „Reallabore – ExperimentierRäume für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft“ versammelten sich hier geschätzte 300 (Nachwuchs-)Wissenschaftler*innen und Praxisakteur*innen verschiedenster Disziplinen, um sich über konkrete Reallaborprojekte sowie auch konzeptuelle und methodische Ansätze in der Reallaborforschung auszutauschen. Zuvor konnten sowohl Artikel und Poster als auch Abstracts für SpeedTalks und Dialoge/Workshops eingereicht werden, die auf der Konferenz in entsprechenden Sessions vorgestellt und diskutiert wurden. Das Programm der Konferenz bot eine Bandbreite an Formaten und Themensträngen, die über das diverse Konferenzpanel in folgende Kategorien aufgeteilt wurden: (1) Urbane Realexperimente für nachhaltige Konsumkulturen; Reallabore in (2) ländlichen und (3) marinen Räumen; (4) Reallabore und Experimente als Konflikträume; (5) Lernen, Reflexion und innere Kultur der Nachhaltigkeit; (6) Reallabore als transdisziplinäres Forschungsformat; (7) Wirkungsmessung von und in Reallaboren; (8) Reallabore als politisch-regulative Testräume; (9) Offener Themenstrang. Über das Panel hinweg lud das koordinierende Netzwerk zudem zum Case Reporting ein, um in einer Zeitschrift Berichte aus der Reallaborpraxis zu versammeln und somit ein niedrigschwelliges Format zum Erfahrungsaustausch zu schaffen. Sowohl das diverse Programm als auch die Begleitung durch das künstlerisch intervenierende „Büro für die Nutzung von Fehlern und Zufällen“ machten die Konferenz zu einer äußerst lebendigen und informativen Veranstaltung, die tiefe Einblicke in den deutschsprachigen Diskurs der Reallaborforschung sowie deren Praxis und Forschungsgemeinschaft gewährte.
Bereits am 10. April konnten Interessierte zudem an einer vom „Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel“ (KAT) ausgerichteten, interaktiven Schulung unter dem Titel „Reallaborarbeit für Einsteiger*innen“ teilnehmen und sich dort über die Grundlagen, Hintergründe und Praxis der deutschsprachigen Reallaborforschung informieren. Im Vordergrund standen hierbei der Ansatz des KAT, der Reallaboren idealtypisch neun Charakteristika zuschreibt. Demnach seien die (1) wissenschaftliche und (2) transformative Forschungsorientierung, die (3) am Leitbild ‚nachhaltiger Entwicklung‘ orientierte Normativität, die (4) Transdisziplinarität und der (5) Einbezug der Zivilgesellschaft, der (6) skalierbare Modellcharakter, der (7) experimentelle Laborcharakter, die (8) Langfristigkeit und schließlich die (9) Bildungsorientierung als grundlegende Merkmale zu verstehen, die bei der Konzeption und Umsetzung eines Reallabors zu erfüllen seien (vgl. Parodi/Steglich 2021: 256f.). Mit Blick auf kontemporäre Dynamiken in der Reallaborforschung merkte Oliver Parodi als Co-Moderator der Schulung und Mitbegründer des Netzwerkes „Reallabore der Nachhaltigkeit“ jedoch kritisch an, dass sich die umfassende Erfüllung jener Kriterien eher als wünschenswerter Zielzustand, denn als aktueller Standard erfassen ließe. Besonders in Abgrenzung zu alternativen partizipativen Formaten sei es jedoch wichtig, dass sich Reallabore durch ihre transformativ-normative und langfristige – im Idealfall jahrzehntelange (vgl. Schneidewind et al. 2018; WBGU 2016) – Ausrichtung kennzeichnen sollten. Aus soziologischer Perspektive ließe sich hier kritisch hinterfragen, was von den einzelnen Reallaborakteur*innen genau unter dem normativen Konzept der Nachhaltigkeit verstanden wird und wie sich die mögliche Diversität jener Konzeptualisierungen in der partizipativen Wissensproduktion wiederfindet (vgl. Defila/Di Giulio 2018). Wie sich auch über die diversen Konferenzbeiträge und vorgestellten Projekte zeigte, gilt es in der partizipativen Forschung daher grundsätzlich, sich über Konzepte sowie entsprechende Erwartungen und Zielsetzungen zu verständigen. Im Folgenden soll zunächst jedoch das Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“ kurz vorgestellt und anschließend – anhand einiger exemplarischer Beiträge – auf den Verlauf der Konferenz und dort verhandelte Themen der kontemporären Reallaborforschung eingegangen werden.
Das Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“
Das 2019 gegründete Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“ setzt sich aus Reallabor-Projekten, Organisationen sowie einzelnen Personen zusammen und versteht sich ganz allgemein als „Anlaufstelle für Reallabor- und Transformationsinteressierte“ (RdN 2024a). Als solche, versammelt das Netzwerk Mitglieder aus verschiedensten Reallabor-Projekten, Initiativen, Kommunen, Hochschulen, Forschungseinrichtungen, NGOs, Unternehmen sowie Privatpersonen und begrüßt stetigen Zuwachs. Ziel des Netzwerkes ist es, die einzelnen Akteur*innen im deutschsprachigen Raum besser miteinander zu vernetzen und über dessen Kommunikationsplattform und Veranstaltungen Synergien zu erzeugen, die zur Verbesserung der Reallaborforschung und -praxis beitragen können. Erst 2023 veröffentlichte das Netzwerk eine Stellungnahme zur Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), ein „Reallaborgesetz“ zu schaffen, in der es dessen Proaktivität begrüßt, das Gesetzeskonzept jedoch als ergänzungsbedürftig thematisiert (vgl. Parodi et al. 2023; BMWK 2023). Zur Reallaborforschung veröffentlichte das Netzwerk zudem weitere Beiträge in einem Sonderband der GAIA (siehe GAIA 2024). Als nützliche Ressource für die Reallaborpraxis entwarf es zudem einen „Ethikkodex für Reallabore der Nachhaltigkeit“, den es auf der Netzwerk-Website zu lesen gibt. Hierzu sammelt das Netzwerk noch bis Sommer 2024 Rückmeldungen, um dessen vorläufigen Entwurf zur Diskussion zu stellen, zu überarbeiten und schließlich der Forschungsgemeinschaft in vollendeter Form zur Verfügung zu stellen (vgl. RdN 2024b).
Erster Konferenztag – 11.04.2024
Eröffnet wurde der erste Konferenztag mit einer Begrüßung des Leiters vom Forschungsbereich „Transformative Kapazitäten“ des IÖR, Dr. Markus Egermann. Sogleich wies jener auf die Hervorhebung „ExperimentierRäume“ im Titel der Konferenz hin. Denn nicht nur aus physisch-geographischer Perspektive, sondern ebenso im sozialen wie auch rechtlichen Sinne brauche die Reallaborforschung vermehrt Räume und strukturelle Unterstützung, an denen es momentan noch fehle. So forderte Egermann beispielsweise, dass – während aktuelle Reallaborprojekte noch größtenteils aus dem Wissenschaftssystem finanziert seien – es mehr strukturelle Förderungen von staatlicher Ebene benötige, um dem partizipativen und transformativen Anspruch von Reallaboren gerecht werden zu können. An jene Perspektive schloss auch der anschließende Keynote-Vortrag des Wuppertaler Oberbürgermeisters und ehemaligen wissenschaftlichen Geschäftsführers des Wuppertal Instituts, Prof. Dr. Uwe Schneidewind, an. Mit Bezug auf ein neues Werbevideo Donald Trumps betonend, dass die Wissenschaftskommunikation in Zeiten des Wissensmissbrauchs wichtiger denn je sei und der Wissenschaftsbetrieb seine gesellschaftliche Rolle überdenken und wahrnehmen müsse, sprach er sich dafür aus, dass besonders die „Architektur der Wissensproduktion“ im Sinne einer Demokratisierung neugestaltet werden müsse. In Einklang mit Egermann fügte Schneidewind hinzu, dass das immer relevanter werdende Konzept des Reallabors hierfür zwar ein geeigneter Ansatz sei, es jedoch politischen Rückhalt und ebensolche ExperimentierRäume (im weitesten Sinne) benötige, um dessen Potentiale entfalten zu können. Es brauche demnach „entbürokratisierte Inseln“, auf denen die Machbarkeit und Wirksamkeit sozial-ökologischer Transformationsprozesse experimentell erforscht werden könnten. In Anbetracht dessen forderte Schneidewind, die Möglichkeiten für regulative Experimentierräume wie Reallabore verwaltungstechnisch deutlich zu erweitern, wie es auch über die erwähnte Gesetzesinitiative des BMWK angedacht ist. Es gehe jedoch auch um eine institutionelle Weiterentwicklung von Förderprogrammen sowie die Etablierung von Wissenschaftseinrichtungen der Reallaborforschung. Auf Ebene der forschenden und praktizierenden Reallaborakteur*innen müssten wiederum zunächst (Selbstwirksamkeits-)Erfahrungen gemacht werden, da die Bedeutung und Wirksamkeit von Wissensbeständen im Allgemeinen durch deren erfahrungsbedingte Aneignung entstehen würde. Teil jener Erfahrungen sei es auch, sich Fehlschläge und Missverständnisse einzugestehen und einen konstruktiven Umgang mit diesen zu finden. Wie sich im Verlauf der Konferenz herausstellte, traf Schneidewind mit diesen Einschätzungen einen Nerv der Reallaborforschung und -praxis, da sich ähnliche Eindrücke auch in verschiedenen Konferenzbeiträgen abzeichneten und hier unter verschiedenen Aspekten, wie bspw. des Konfliktmanagements, thematisiert und diskutiert wurden.
So wurden in einer an die einleitenden Vorträge anschließenden Session des Themenstrangs „Reallabore als Konflikträume“ Reallabore in Anlehnung an Steffen Mau et al. (2023) als „Triggerorte“ verhandelt. Wie sich über die Vorträge und Diskussionen zeigte, gehe es in den dort stattfindenden konstanten Aushandlungen von Konsens und Dissens unter den Beteiligten häufig nicht direkt darum, schnelle Lösungen zu finden, sondern ebenfalls darum, Konflikte auszuhalten und transparent zu machen. Gemäß der Einsicht, das „idealtypische Reallabor“ im Sinne all seiner Charakteristika (s.o.) als Zielzustand zu verstehen, gehe es somit nicht immer darum, Best- oder Worst-Practices herauszustellen, sondern allem voran der Frage nachzugehen, was sich aus den Erfahrungen und von den verschiedenen Ansätzen der Beteiligten für Alle lernen ließe. In Anklang an Singer-Brodowski et al. (2022) wurde zudem hervorgehoben, dass es „genügend sichere Räume“ für eine wirkungsvolle Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen und die Ermöglichung eines „transformativen Lernens“ benötige. Es sei demnach auch über Machtstrukturen (vgl. Wittmayer et al. 2021) oder etwa die Rolle von Emotionen im Kontext transformativer Bildungs- und Lernprozesse (vgl. Förster et al. 2019) nachzudenken.
In der Nachmittagssession des Themenstrangs „Impactmessung von Reallaboren“ wurden dann sowohl die „state-of-the-art“-Herausforderungen der Konzeptualisierung als auch die methodischen Implikationen der Wirkungsmessung von Reallaboren thematisiert. Als konkretes Tool enthielt die hier präsentierte – sich noch im Entwicklungsstatus befindende – „Indicator Matrix for measuring citizen dialogues“ des ITAS erste Antworten darauf, was zu fragen und erheben sei, um die Wirkung von Reallaborexperimenten evaluieren zu können. Kritisch wurde jedoch angemerkt, dass Reallaborexperimente über ihren teilweise wahrzunehmenden Charakter der „Festivalisierung“ hinausgehen müssten, um deren Wirkungsweise messen zu können (zur Wirkungsmessung siehe auch Augenstein et al. 2022). Es sei demnach nicht genug, Einzelevents zu organisieren und bspw. die Partizipation von Bürger*innen als Wirkung zu verbuchen, sondern es müssten ebenfalls größere Zusammenhänge entstehen, die eine Wirkungsmessung und -beurteilung auch außerhalb jener Events ermöglichen. Im Angesicht der vielen methodischen Unklarheiten des transdisziplinären und transformativen Forschens müsse letztlich immer kritisch hinterfragt werden, wie für die Wirkung von (Real-)Experimenten argumentiert werde. Denn wie auch Grunwald in Reaktion auf Strohschneiders Kritik am Konzept transformativer Wissenschaft anmerkt, ist das Phänomen des solutionism und bias im Kontext der Normativität und gewünschten Transformativität von Reallaborprojekten ernst zu nehmen (vgl. Grunwald 2015).
In einer weiteren Session des Themenstrangs „Reallabore in ländlichen Räumen“ wurde am Beispiel des Juraparks Aargau thematisiert, wie ein „Joint Problem Framing“ aussehen könnte. Zu den Aufgaben der Session zählte, sich einen gemeinsamen Überblick über die zu behandelnden Problematiken, möglichen Lösungsstrategien und auch gemeinsam verwendeten Konzepte zu schaffen und anhand dessen partizipativ Ansatzpunkte zu definieren, entwickeln und schließlich zu bewerten. Leitend war hierbei die Frage: „Wie kann es von der gemeinsamen Idee zur partizipativen Umsetzung kommen?“. Doch nicht alle Beiträge der Konferenz entsprangen der Reallaborforschung oder bereits realisierten Reallaborprojekten. So thematisierten die Aktivistinnen Nora Mittelstädt und Kea Weber über eine performative sowie auch informative Inszenierung unter dem Titel „Pödelwitz: Eine Halbinsel des Guten Lebens im Tagebau?“ die zivilgesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozesse im Dorf Pödelwitz. Jenes sollte vor dem aktivistischen Widerstand dem Braunkohleabbau weichen und wird nun von einigen wenigen, doch äußerst engagierten Menschen bewohnt (siehe Pödelwitz 2014). Wie sich in der Diskussion mit den beiden Aktivistinnen herausstellte, verfolgt aktuell zwar noch niemand einen Reallabor-Ansatz in Pödelwitz, jedoch seien wissenschaftliche Untersuchungen dort durchaus erwünscht, um die dort gelebten Transformationsgedanken anzureichern und – wohlmöglich – sogar argumentativ zu untermalen.
Wie anhand der einzelnen Beispiele angedeutet wird, bot der erste Konferenztag ein umfangreiches Programm, das verschiedenste Einblicke in die Reallaborforschung und -praxis sowie auch alternative Ansätze des Engagements für eine nachhaltige Entwicklung gewährte. Jene entfalteten sich schließlich nicht nur als informativ, sondern ebenso warfen sie Kontroversen auf, die es weiterhin zu bearbeiten gilt. Als zentrale Aushandlungspunkte stellten sich hierbei die Förderung und Erweiterung von ExperimentierRäumen, das Lernen aus Konflikten und Herausforderungen, die Wirkung und Reflektion von Realexperimenten sowie die Konzeption möglicher Anhaltspunkte für partizipative Forschungsprojekte heraus.
Zweiter Konferenztag – 12.04.2024
Der zweite Konferenztag startete mit einer von Dr. Regina Rhodius (Öko-Institut e.V.) moderierten Podiumsdiskussion zum Thema „Perspektiven der Reallaborforschung“. Zu Gast waren der Leiter der Geschäftsstelle Reallabore des BMWK, Dr. Kai Hielscher, der Geschäftsführer der futureprojects GmbH, Norbert Rost, die Koordinatorin des Bereichs Bürgerlabor und Community im Projekt Smart Participation der Landeshauptstadt Dresden, Christiane Wagner, und Dr. Oliver Parodi, als Leiter des KAT und Begründer des Reallabors Quartier Zukunft – Labor Stadt, über welches er bereits seit 2012 den deutschsprachigen Reallabordiskurs sowie die -praxis mitgestaltet. Als durch ihr Projekt bürgernah engagierte Person betonte Wagner bereits zu Beginn der Diskussion, dass es in der Reallaborpraxis häufig noch am Eingeständnis fehle, dass mit Fehlschlägen zu rechnen sei, diese die gemeinsame Unternehmung jedoch implizit weiterbringen könnten.
In Bezug auf die oben thematisierte Diskussion um die Thematik der Wirkungsmessung von Reallaboren schloss Wagner hiermit auch an die bereits erwähnte Skepsis gegenüber der Transformativität und den Ergebnissen der Reallaborforschung an, die teilweise auch an der positiven – doch nicht immer nachvollziehbaren – Darstellung entsprechender Forschungen läge. Da es in der Reallaborforschung und -praxis bisher meist an Best-Practices fehlt, sollten Ergebnisse mit Vorsicht behandelt werden. Gleichzeitig könne aus den Fehlschlägen und Herausforderungen in der Praxis gelernt werden, indem man diese als Teil des Prozesses aufgefasst und angeht (siehe auch Beecroft et al. 2018). Vor dem Hintergrund eines solchen Umgangs scheint es schließlich auch möglich, die bisher noch vielfach diskutierten theoretischen und praktischen Grundlagen zu schaffen, um den Ansprüchen einer transformativen und partizipativen Wissenschaft – wie bspw. über die präsentierten neun Charakteristika von Reallaboren formuliert – Genüge zu tun.
Sich tiefgehend mit den rechtlichen Grundlagen und Möglichkeiten für Reallabore beschäftigend hob Hielscher wiederum hervor, dass die Stellungnahme des Netzwerkes „Reallabore der Nachhaltigkeit“ äußerst hilfreich für die Ausarbeitung des vom BMWK geplanten Reallaborgesetzes sei und weitere Anregungen aus der transdisziplinären Forschungsgemeinschaft durchaus erwünscht wären. Besonders von den Kommunen erhoffe er sich eine Beratung und Informationen dazu, wie sie aus gesetzlicher und verwaltungstechnischer Sicht unterstützt werden könnten. Denn besonders die Kommunen könnten individuell Möglichkeiten für die angefragten ExperimentierRäume schaffen, wenn ihnen strukturell nicht häufig die Hände gebunden wären. Letztlich seien auch starke Lobbyarbeit und Nachweise für die Effektivität von Reallaborforschungen wichtig, um die Konditionen jener von der politischen Ebene aus zu verbessern. Dahingehend merkte Hielscher zuletzt seine Hoffnung an, dass die Akteur*innen der Reallaborforschung Allianzen mit den Kommunen schmieden würden, um den Entscheidungsträger*innen gemeinsam klarzumachen, dass es langfristig angelegter, diversifizierter Förderstrukturen bedarf. Die aktuellen Rahmenbedingungen der Reallaborforschung thematisierend schloss auch Parodi – ähnlich wie bereits Schneidewind – an jene Forderung an und betonte, dass es – um das transformative Potential von Reallaboren entfalten zu können – zunächst darum gehe, entsprechende Infrastrukturen aufzubauen. Wie auch in der Diskussion hervorgehoben wurde, mangele es momentan noch grundlegend an allgemeinen Ressourcen, wie bspw. an die Reallaborarbeit angepassten Arbeitsverträgen. Erneut hob Parodi hervor, dass es im Sinne der Transdisziplinarität ebenfalls zu dieser Ressourcenausstattung gehöre, die aktuell primär aus dem Wissenschaftssystem stammenden Fördergelder zu diversifizieren und dementsprechend auch aus anderen Sektoren, wie der Politik und Zivilgesellschaft, zu beziehen. Nichtsdestotrotz merkte Parodi enthusiastisch die im vergangenen Jahrzehnt stark zu vermerkenden Professionalisierungstendenzen in der Reallaborforschung und -praxis an, die sich als eine rasante Veränderung im sonst eher trägen Wissenschaftssystem darstellen. Problematisch sah er allerdings, dass der Begriff des Reallabors über die Jahre „aufgeweicht“ sei und einer erneuten bzw. weiteren Schärfung bedürfe. Ähnlich wie in der Debatte um Konzepte und Implikationen der Nachhaltigkeit mag dies nicht zuletzt auf die Diversität von Reallaborprojekten und -ansätzen zurückzuführen sein. Anschließend an die Reallabordefinition des KAT sei es nach Parodi daher wichtig, dass es in Reallaboren um eine Nachhaltigkeitstransformation gehe, die sich am Leitbild nachhaltiger Entwicklung orientiere. Das Dilemma der Debatte somit weitertragend, gelte es hier jedoch weiterhin das Transformations- und Nachhaltigkeitsverständnis von Reallaboren und ihren Akteur*innen in ihren einzelnen Kontexten zu schärfen und herauszustellen.
In der anschließenden Session des Panels „Urbane Realexperimente für nachhaltige Konsumkulturen“ wurden vier verschiedene Realexperimente in den Innenstädten Duisburgs, Würzburgs und Schwentinentals vorgestellt. Diese widmen sich den Fragen, „wie nachhaltige Konsumangebote als Treiber einer positiven Innenstadtentwicklung dienen könnten“, „wie Orte als praktische und informative Anlaufstelle für nachhaltigen Konsum dienen und dabei ein entsprechendes Bewusstsein fördern könnten“ oder auch „wie sich nachhaltig und sozial orientierte Projekte – wie ein kostengünstiger Fahrrad- und Artikelverleih – ressourcentechnisch umsetzbar machen ließen“. Als Herausforderung stellt sich dabei häufig heraus, dass die Projekte größtenteils auf ehrenamtlichem Engagement beruhen und allgemein Ressourcen zur effektiven Umsetzung und langfristigen Sicherung der Projekte fehlen. Dennoch würden die Projekte zivilgesellschaftlich bereits gut angenommen werden und grundsätzlich laufen – wenn auch mit Veränderungen oder Abstrichen. Aus den positiven sowie negativen Erfahrungen sei nun zu lernen, indem die Projektansätze angepasst und Fehlkalkulationen diskutiert werden. Einen ausgearbeiteten Reallaboransatz zur Erforschung der transformativen Projekte stellten die Referent*innen jedoch nicht vor – hier ging es vor allem um die Praxis. In der zweiten Session des Konferenztages stellten im Themenstrang „Reallabore in ländlichen Räumen“ verschiedene Reallabore ihre Ansätze und Konzeptionen vor. Hierbei zeigte sich die große Varianz an möglichen Reallaborprojekten im ländlichen Raum, der in Anbetracht der Vielfalt an städtischen Projekten in der Reallaborforschung häufig unterrepräsentiert scheint. In der Session erstreckten sich die Projekte von einer Begleitforschung zur Transformation einer ländlichen Kunstinstitution über die Implementierung eines Waldreallabors bis hin zur partizipativen Raumplanung eines großen Landstrichs. Heraus stachen hier auch die verschiedenen Ansätze der Projekte, den Raum ihrer Reallabore zu erfassen, einzugrenzen und entsprechend zu erforschen.
Gegen Ende der Veranstaltung konnten alle Interessierten noch an einer gemeinsamen Reflexionssession sowie am offenen Treffen des Netzwerks „Reallabore der Nachhaltigkeit“ teilnehmen und dort mehr über die Interessen und Aktivitäten des Netzwerkes erfahren. Zudem konnte Dresden mit dem Fahrrad bei der „Tour der Utopien“ auf neue Weise entdeckt werden, indem Dresdener Projekte, Initiativen und Macher*innen besucht wurden, um in einen Dialog über bspw. mögliche Zukunftsvisionen und Möglichkeiten transdisziplinärer Forschungsprojekte zu treten. In Anbetracht der erwähnten Beiträge und Angebote präsentierte sich die Konferenz somit auch am zweiten Tag als vielfältig, kontrovers und informativ. Über die erneute Diskussion um die Rahmenbedingungen und (strukturellen) Herausforderungen sowie die konzeptionellen Grundlagen und Ausrichtungen der Reallaborforschung und -praxis zeichneten sich hier jedoch auch trotz der angemerkten Vielfalt bereits rote Fäden in der Diskurslandschaft rund um die Reallaborforschung und -praxis ab, denen es über die Konferenz hinaus weiter zu folgen gilt.
Abschließende Bemerkungen
Im Angesicht der hohen Teilnehmer*innenanzahl sowie der thematischen Diversität der Konferenz, lässt sich die Veranstaltung retrospektiv als ein Knotenpunkt der kontemporären deutschsprachigen Reallaborforschung ansehen. Als solch ein Knotenpunkt versammelte die Konferenz renommierte (Nachwuchs-)Wissenschaftler*innen und Praxisakteur*innen verschiedenster Disziplinen und Ansichten aus dem DACH-Raum und bot somit viel Gelegenheit zum Austauschen, Vernetzen und Mit- als auch Voneinander-Lernen. Zugleich präsentierte sich Reallaborforschung in ihrem Aufschwung jedoch keineswegs als einheitlich, sondern geradezu als kontrovers. Auch wenn sich die grundlegende Idee der Reallaborforschung als transformativ, nachhaltigkeitsorientiert und transdisziplinär durchaus als gemeinsame Orientierung verstehen lässt, stellen sich eben genau hier immer wieder grundsätzliche Fragen aufs Neue: „Was genau bedeutet Transformativität?“, „Wie lässt sich die Wirkung von Reallaboren, im Sinne einer Transformativität, messen?“, „Was impliziert das Konzept der Nachhaltigkeit?“, „Was macht eine transdisziplinäre Forschung in der Praxis aus?“. Auch wenn sich hier kein Konsens finden lässt und jene Fragen im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung und vor dem Hintergrund projektbezogener Kontextunterschiede stets diskutabel bleiben, bieten Ansätze wie die Reallabordefinition und der Ethikkodex des KAT hilfreiche Orientierungen, um sich hier einem gemeinsamen Verständnis anzunähern.
Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen der aktuellen Reallaborforschung im DACH-Raum ließ sich zudem ein gewisser Konsens in den Forderungen zum Aufbau gewisser Reallabor-Infrastrukturen vernehmen. Dieser bezog sich insbesondere auf die Notwendigkeit von gesetzlich angepassten Rahmenbedingungen, auf die Erweiterung und Diversifizierung von Förderstrukturen sowie auf die Anpassung von Arbeitsverträgen und Zeithorizonten. Als weitere Gemeinsamkeit lässt sich zudem die Einsicht herausstellen, dass die Wirkungsmessung von Reallaboren ernst zu nehmen sei und verbessert werden müsse, während etwaige Fehlschläge im Sinne eines experimentellen, prozesshaften Vorgehens als Teil des gemeinsamen Lernprozesses verstanden werden sollten.
Wie sich zeigen ließ, bleiben für die Reallaborforschung und -praxis also einerseits weiterhin viele Fragen offen, während sich andererseits erste Ansatzpunkte zur Konzeption und Umsetzung von Reallaboren abzeichnen oder auch bereits verfestigt haben. Das vorgestellte Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“ stellt hier eine Anlaufstelle im deutschsprachigen Raum dar, um über entsprechende Fragen und Ansätze zu diskutieren. Zur weiteren Beschäftigung mit den kontemporären Debatten rund um die Reallaborforschung und -praxis lohnt sich jedoch auch ein Blick in die angefügten Referenzen und Lesetipps.
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Jakob Kreß arbeitet in der Redaktion der Zeitschrift „Soziologie und Nachhaltigkeit“ mit und koordiniert das OJSRed-Netzwerk für Open Access basierte Zeitschriften im DACH-Raum
Email: jkress01@uni-muenster.de