Tagungsberichte

Genuss und Verwüstung. Bericht zur Tagung „Subjekte der ökologischen Verwüstung“ im Studierendenhaus der Goethe-Universität Frankfurt

Dass die Klimakrise nicht nur einzelne Ökosysteme, sondern die ganze Menschheit existenziell gefährdet, ist hinlänglich bekannt. Dieses Wissen hat längst die Form einer immensen Datensammlung gewonnen, in welcher nicht nur geschehene Verwüstungen dokumentiert, sondern die kommenden in ausgefeilten Modellen simuliert und antizipiert sind. Alle diese Vorhaben, so wichtig sie auch sind, haben dabei etwas Vergebliches: Denn nicht nur scheint exakteres Wissen nicht zu entschiedenerem Gegensteuern zu führen; in den Datensammlungen soll etwas letztlich Unfassbares erfasst werden. ‚Unfassbar‘ – das ist die Klimakrise nicht nur der unkalkulierbaren Konsequenzen ökologischer Kipppunkte wegen, sondern aufgrund ihrer überfordernden Monstrosität auch im subjektiven Sinne: Wie schon soll sich das Szenario des Endes der Menschheit vorstellen lassen? Wie das eigene Leben in einer Welt, in der sich die Folgen der Klimakatastrophe in der eigenen Lebenswelt radikal manifestieren? Und wie soll ein Subjekt, das in seinem Lebensvollzug permanent dazu aufgefordert ist, autonom und handlungsfähig zu sein, mit der gefährlichen Kränkung verfahren, die eine aus der menschlichen Kontrolle geratene Natur darstellt?

Die subjektiven Reaktionen auf Kränkung und Unbegreiflichkeit der Klimakrise fallen dabei sehr unterschiedlich aus: Von apokalyptischer Angst über die zunehmend verzweifelten Versuche, das eigene „glückliche Bewusstsein“ (Marcuse 1967: 95) gegen alle Verwüstungen aufrechtzuerhalten bis hin zur Ablehnung jeglicher nachhaltiger Politik oder der aggressiven Bestärkung der Verwüstung in der global erstarkenden Rechten. Angesichts dieser Konstellation tut es Not, sich nicht nur der ökologischen Verwüstungen selbst, sondern auch den „Subjekten der ökologischen Verwüstung“ zuzuwenden und ebendas ist Ausgangspunkt und Titel des Workshops, der am 16. und 17. Mai 2024 im Studierendenhaus stattfand und den Untertitel „Soziologische, psychoanalytische und sozialphilosophische Beiträge zur Aktualisierung der Kritischen Theorie“ trug. Der Workshop setzte sich dabei zwei Ziele: Erstens die Subjektivitäten der Klimakatastrophe zu begreifen und zu ergründen, was aus dem Subjekt wird, das die ökologische Verwüstung forttreibt und erfährt. Entsprechend lautete die in der von den Organisator*innen Thomas Barth, Ricarda Biemüller, Tobias Heinze und Heiko Stubenrauch in der Einführung aufgestellte Leitfrage, ob die „Subjekte der ökologischen Verwüstung wirklich so abgeklärt, einfältig und indifferent“ sind, wie es kritisch-ökologischen Zeitgenoss*innen oft erscheint. Zweites Ziel war eine Aktualisierung Kritischer Theorie für die Klimakrise, also die Diskussion der Frage, was die Kritische Theorie Frankfurter Prägung für das Verständnis dieser Subjektivitäten beizutragen hat, an welchen Stellen diese einer Anpassung bedarf und wie eine solche Anpassung aussehen könnte.

Um dies gleich vorwegzunehmen: Während so manche wissenschaftliche Tagung mit großen Begriffen aufwartet, um sich sodann in disparaten Details zu verlieren, aus denen sich kein Bild eines größeren Zusammenhangs herstellen möchte, gelang es in diesem Workshop, die zentralen und umstrittenen Diskussionsstränge eines in der Formierung begriffenen Forschungsfelds sichtbar zu machen. Auf die Darstellung dieser Diskussionsstränge möchte ich mich fokussieren, zugleich aber einen Überblick über alle Beiträge des zweitägigen Workshops geben – was dazu führt, dass die nachfolgende Rezeption der einzelnen Beiträge unterschiedlich ausführlich ausfallen wird.

Tag 1

Der Workshop war in sechs Teile geteilt. Im ersten Teil Natur und Naturbegriffe widmete sich zunächst Lorina Buhr (Utrecht University) dem Naturbegriff Kritischer Theorie seit Marx und der Frage, ob dieser im Lichte der Klimakrise einer Modifikation bedarf. Sie plädierte dabei für eine Ausweitung und Präzisierung des Begriffs, weil in der frühen Kritischen Theorie eine Beschränkung auf belebte Natur bestehe, Natur zumeist regional begrenzt gedacht und Naturzerstörung als prinzipiell reversibel betrachtet wird – was allesamt Prämissen seien, die sich im Lichte der Klimakrise nicht aufrechterhalten ließen. Philip Hogh wendete sich sodann der Frage der Normativität von Natur und darin auch der normativen Quellen (ökologischer) Gesellschaftskritik zu. Er versuchte dabei den Gegensatz zwischen einer biozentrischen Argumentation, die Normativität in der Natur selbst verankert und einer anthropozentrischen Argumentation, die Normativität als rein menschlichen Akt begreift, aufzulösen: Letztere Argumentationsweise müsse akzeptieren, dass in Natur Normativität angelegt ist, während erstere akzeptieren müsse, dass jede Erkenntnis über die Normativität von Natur sprachlich und durch den Menschen vermittelt ist. Während die ersten beiden Beiträge Grundbegriffe zum Gegenstand hatten, war der Vortrag von Heiko Stubenrauch bereits stärker in der Zeitdiagnostik verankert: In seinem Beitrag Wunsch und Natur: Kritische Theorie im Zeitalter ökologischer Verwüstung verweist er darauf, dass mit der „kontrollierten Triebbefreiung“ im (post-)fordistischen Spätkapitalismus, die Stubenrauch mit Herbert Marcuse (1967) auf den Begriff „repressive Entsublimierung“ bringt, auch einhergehe, dass „Umweltzerstörung im Modus der Freiheit, nicht im Modus der Entfremdung“ stattfinde[1]: Die Klimakrise werde heute nicht primär aus der instrumentellen Naturbeherrschung unter Zwang, sondern durch Freiheit zum Konsumismus vorangetrieben.

Der zweite Teil des Workshops nahm sich sodann der Sozialökologie der Verwüstung an. Während im späteren Verlauf des Workshops die subtileren Mechanismen der „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2020) im Fokus standen, ging es hier in beiden Vorträgen um die offene und aggressive Bestärkung ökologischer Verwüstung. Beide Beiträge schlossen dabei an die kritisch-theoretische Forschungstradition der autoritären Persönlichkeit an: Julian Niederhauser stellte in seinem Vortrag Der potenzielle Fossil-Faschist sein Forschungsvorhaben vor: Anschließend an die jüngere Debatte zur Gefahr, dass die Klimakrise Katalysator für faschistische Formierungen werden könnte, stellt er erste Einblicke in seine empirische Forschung dar, die darauf hinweisen, dass sich in Reaktion auf die Klimakrise klassische Momente autoritärer Charakterstrukturen mit einer „Lust an der ökologischen Destruktion“ verbinden, in der die eigene Lebensführung in Abgrenzung zu Nachhaltigkeit, die mit Verwirklichung assoziiert werde, performativ um „Autos, Ruß und Schlamm, Bier, Fleisch, Party“ gebaut wird. Nahe lag hier die Assoziation zu Simon Schaupps (2024) aktuellen Buch „Stoffwechselpolitik“, in welchem dieser argumentierte, dass fossile Energie mit dem Aufkommen der Nachhaltigkeitsdiskurse für Rechte zum Symbol einer angeblich gefährdeten Lebensweise geworden ist, die um das Bild des potenten, die Natur beherrschenden (und freilich männlichen) Subjekts gebaut ist.

Im darauffolgenden Vortrag stellte Dennis Eversberg aufbauend auf den Forschungen der BMBF-Nachwuchsgruppe „Mentalitäten im Fluss. Vorstellungswelten in modernen bio-kreislaufbasierten Gesellschaften (flumen)“ eine ökologische Sozialcharakterologie vor, in welcher ökologische Einstellungen sowie Charakterstrukturen einem erweiterten Modell von Klassenmilieus zugeordnet wurden. Aus diesem Beitrag entspann sich eine Diskussion, die sich durch beide Tage des Workshops ziehen sollte und um die Frage kreiste, ob psychoanalytische Begrifflichkeiten (wie etwa der  „sadomasochistischer Charakter“) unmittelbar als soziologische bzw. sozialcharakterologische Begriffe verwendet und eindeutig sozialen Milieus zugeordnet werden können, ohne diese um ihren psychoanalytischen Gehalt und ihre innere Komplexität zu bringen. Das verweist auf die zentrale Frage, welche Stellung Psychoanalyse in Kritischer Sozialwissenschaft zukommen kann und soll.

Der dritte Teil des Workshops stand unter dem Titel Psyche, Gesellschaft, Klima. Der Beitrag von Anna Hartmann (Universität Regensburg) „Subjekte ohne Begehren. Psychoanalytische und feministische Überlegungen zur Verwüstung sozialer Beziehungen“ wich insofern vom Rest der Beiträge ab, als es ihr nicht um ökologische, sondern um soziale Verwüstung ging. Sie führte in den Grundgedanken der Psychoanalyse Jacques Lacans ein und argumentierte, dass unbelebte, nicht-menschliche Objekte und ihr unmittelbarer Konsum zunehmend an die Stelle substanzieller sozialer Beziehungen treten würden. Im nächsten Beitrag lieferte Christine Kirchhoff unter dem Titel „Von der Freiheit ‚Möglichkeiten ungenutzt zu lassen‘ und der Notwendigkeit zu handeln“ einen höchst instruktiven Rundumschlag über die Psychoanalyse der Klimakrise, die sie als eine „Krise der Verleugnung“ ausdeutete. Während Kirchhoff individualistische Formen nachhaltigen Lifestyles als Ausdruck davon deutete, dass das Subjekt angesichts der Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen dazu gedrängt ist, die eigene, individuelle Rolle zu überschätzen, sieht sie im Antiökologismus der Rechten Abwehrmechanismen am Werk: Die Leugnung des Klimawandels befreie von Schuld und Scham und wehre zudem die narzisstische Kränkung ab, von einer unkontrollierbaren und eigensinnigen Instanz wie Natur abhängig zu sein. Kränkend sei dabei die Erfahrung, dass Natur keine „Toilettenbrust“[2] ist. Im Antiökologismus melde sich daher der Herrschaftsanspruch an, der das Andere nicht als Anderes existieren lassen kann, sondern es nur annimmt, sofern er es beherrschen kann.

Tag 2

Am zweiten Tag des Workshops ging es mit dem vierten Teil unter dem Titel Abhängigkeit und Abwehr weiter. Den Anfang machten Charlie Kaufhold (Internationale Psychoanalytische Universität Berlin) und Andrea Lilge-Hartmann (Psychotherapists for Future) mit ihrem Vortrag „Über die folgenreiche Abwehr einer bedrohlichen Realität“. In dem höchst spannenden Beitrag zeigen die Vortragenden anhand von Ausschnitten aus Gruppendiskussionen, dass das Sprechen über die Klimakrise zwischen schlechtem Gewissen und Abwehrmechanismen zerrissen ist und zudem von einem starken Zynismus geprägt ist, in der Ohnmacht und Destruktivität oft Hand in Hand gehen. So etwa, wenn die Ratlosigkeit gegenüber der Klimakrise beinahe nahtlos erst in das (falsche) Narrativ der Überbevölkerung und sodann in die fatalistisch vorgetragene Vorstellung übergeht, dass eine Lösung wohl nur in der Reduktion der Weltbevölkerung zu finden sei: „Millionen von Menschen zu töten ist einfach.“

Weiter ging es mit dem gleichermaßen spannenden Vortrag von Anna Rosa Ostern (IfS Frankfurt) mit dem Titel „Abwehr von Abhängigkeit. Einblicke in eine Interviewstudie mit Preppern und anderen Selbstversorgern“. Als Schlussfolgerung aus den bisherigen Erhebungen stellt Ostern fest, dass Gesellschaft von den Befragten als Zumutung und diffus krisenhaft erfahren wird, woraus sich das Bedürfnis speise, „allein in der Gesellschaft [zu] leben“. Die angestrebte Autarkie verschaffe den Befragten zudem eine virtuelle Handlungsfähigkeit in der antizipierten Katastrophe, die den Ohnmachtserfahrungen in der Gegenwart entgegengesetzt ist. Die Ausführungen zu Preppern schloss inhaltlich gut an den früheren Beitrag von Julian Niederhauser an, der auf den von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (2022) behandelten libertären Autoritarismus verwies: In diesem bestünde eine „Konvergenz von Freiheitsanspruch und Autoritarismus“ (Niederhauser), weil er von einer  Freiheitsvorstellung ausgehe, in der jegliche Abhängigkeit und Einschränkung als illegitim betrachtet und die eigene, unbedingte Unabhängigkeit gegen jeglichen gesellschaftlichen Eingriffsversuch verteidigt wird.

Der fünfte Teil des Workshops war mit Subjekt, Generation, Erziehung betitelt. Zuerst stellten Melanie Pierburg (Universität Hildesheim) Hanna Haag (Frankfurt University of Applied Sciences) und Michael Corsten (Universität Hildesheim) ihre Forschungsbefunde dazu vor, wie Klimaaktivist*innen subjektiv auf die „Zeichen triumphalen Unheils“ – ein Zitat aus der Dialektik der Aufklärung und zugleich der Titel des Beitrags – reagieren. Dabei kontrastiert Pierburg et al. zwei Subjektivierungsweisen anhand zweier Fälle: dem einer Klimaaktivistin, für die Aktivismus den Ausstieg aus einer bürgerlichen Lebensweise zugunsten des prekären Vollzeitaktivismus bedeutet, und dem eines Jurastudenten, der gegenüber der Klimakrise Handlungsfähigkeit erlebt und Chancen sieht, ökologisches Engagement in seine bestehende Lebensführung zu integrieren. Im zweiten Beitrag wendet sich Ricarda Biemüller (Goethe-Universität Frankfurt) der „Erziehung zur Verwüstung“ zu. Wie auch Anna Hartmann schließt Biemüller an Lacan an, mit dem sie argumentiert, dass heute ein Imperativ des Genießens existiert, dass das Über-Ich also nicht verbietend, sondern gebietend strukturiert.[3] Diesen bezeichnet sie als „überwältigende Entsublimierung“, die in eklatanten Widerspruch zum Wissen um die Klimakrise stehe und die Menschen zu einem Dasein als „zynische Monaden des Genießens“ verdamme.

Der sechste Teil des Workshops widmete sich unter dem Titel Kultur der Verwüstung künstlerischen Auseinandersetzungen zur ökologischen Verwüstung. Der erster Beitrag stammte von Anne Gräfe (Leuphana Universität Lüneburg) und beschäftigte sich mit dem Motiv ökologischer Verwüstung im Werk Heiner Müllers. Jochen Gimmel (Universität Kassel) beschäftigte sich im zweiten Beitrag mit dem „kritischen Potential apokalyptischen Denkens“, indem er die Rolle von Apokalyptik in der frühen Kritischen Theorie rekonstruiert. Den Abschluss machte Jennifer Stevens (Friedrich-Schiller-Universität Jena) mit ihrer Kritik der „romantischen Verklärung der Natur“ anhand des Werks von Casper David Friedrichs.

Grundfragen und Richtungsentscheidungen eines neuen Forschungsfelds

Die Facetten der vorgestellten Forschungsvorhaben sind zu zahlreich, um sie alle in ein bündiges Fazit zum Workshop unterzubekommen. Doch haben sich einige Fragen und Zusammenhänge als zentral für eine kritische Subjektforschung im Zeitalter ökologischer Verwüstung herausgestellt, die ich hier daher nochmals kondensiert darstellen möchte. Mehrere Beiträge und Diskussionen hatten das Verhältnis von Freiheit und Herrschaft in der ökologischen Verwüstung zum Gegenstand. Argumentierte Heiko Stubenrauch, dass ökologische Verwüstung heute aus der Freiheit eines entfesselten Subjektes resultiere, verdeutlichte Ricarda Biemüller, dass die Ablösung eines verbietenden Über-Ichs durch ein Über-Ich, das Genuss einfordert, nicht das Ende von Zwang bedeutet, sondern eine neue Form des Zwangs etabliert – dem zum Genuss. Zugleich wurden die Prämissen einer solchen Argumentation immer wieder kritisiert: So bemängelte etwa Christine Kirchhoff, dass der Wandel von einem ver- zu einem gebietenden Über-Ich, der mit dem Wandel zum konsumgetriebenen Spätkapitalismus parallel geschalten wird, die Eigenständigkeit psychoanalytischer Argumentation schwäche und die Stabilität von Subjektivierungsformen gegenüber sozialem Wandel unterschätze. Wie auch in der Diskussion, die auf den Beitrag von Dennis Eversberg folgte, ist die Rolle der Psychoanalyse und ihre Eigenständigkeit gegenüber soziologischen Argumentationen einer der zentralen Streitpunkte des Workshops.

Unabhängig vom Ausgang dieser Diskussion ist mit der Diagnose eines Imperativs des Genusses  ein zentraler Widerspruch der Gegenwartsgesellschaft benannt: Jener zwischen einer Sozialordnung, die nicht Verzicht, sondern Teilhabe und Selbstverwirklichung qua Konsum predigt, und den drängenden Erfordernissen der Eindämmung der Klimakrise. Die weitergehende Analyse dieses Widerspruchs zwischen dem (prinzipiell grenzenlosen) Zwang zum Genuss einerseits und der Notwendigkeit der Einhaltung planetarer Grenzen  andererseits könnte eine wichtige Ergänzung zur Kritik der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Ulrich 2017) darstellen, indem sie zu einem Verständnis der subjektiven Mechanismen beiträgt, die das Subjekt an ein nicht-nachhaltiges, selbstzerstörerisches System binden. Als einer dieser Mechanismen wurde im Laufe des Workshops ein libertärer Autoritarismus ersichtlich, der auf der unbedingten Autonomie des Individuums beharrt und jeglichen (ökologischen) Eingriff in die eigene Lebensweise ablehnt. Auch wenn dieser Autoritarismus am deutlichsten in den reaktionären Bewegungen der Gegenwart zu erkennen ist, so ist dieser aber nicht auf solche beschränkt, sondern hat vielmehr einen inneren Zusammenhang zu anderen Formen individualistischer Mentalität: Wie Amlinger & Nachtwey (2024) argumentieren, zeichnet sich libertärer Autoritarismus durch ein Freiheitsverständnis aus, in welchem diese nicht in, sondern nur außerhalb von Gesellschaft verortet wird. Die Autor*innen ordnen diesen Freiheitsbegriff einem „Besitzindividualismus“ (Amlinger/Nachtwey 2022: 91) zu, wie er für bürgerliche Gesellschaften, in der Menschen primär als warenbesitzende und -tauschendes Subjekt agieren, charakteristisch ist: „Die verdinglichte Freiheit gehört dem einzelnen Individuum, sie ist nicht länger eine Beziehung zu anderen.“ (Amlinger/Nachtwey 2022: 91) Eben hier schließt sich der Kreis zu den „zynischen Monaden des Genusses“, wie sie von Biemüller charakterisiert wurden: Der Widerspruch, den in einer wohl ungeplanten Konvergenz zahlreiche Beiträge implizit zum Gegenstand hatten, ist jener zwischen der negativen Individualisierung zu isolierten, monadischen Warenbesitzer*innen und dem zunehmenden kollektiven Verwiesensein auf geteilte Existenzbedingungen, das in libertär-autoritären Mentalitäten als nicht hinzunehmende Kränkung erfahren wird. Entscheidend scheint mir dabei die in der Gesamtschau des Workshop vermittelte Erkenntnis, dass in den unterschiedlichsten Subjektivierungsformen – vom individualistischen ökologischen Lifestyle bis zum fossilen Faschismus – ein Zusammenhang von Genuss und Verwüstung besteht: Genuss trotz der Verwüstung und Genuss an der Verwüstung.

 

Amlinger, C./Nachtwey, O. (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin: Suhrkamp.

Blühdorn, I. [Hrsg.] (2020): Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. 2., aktualisierte Auflage. Bielefeld: transcript.

Brand, U./Wissen, M. (2017): Imperiale Lebens­weise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom.

Marcuse, H (1967): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. 2. Auflage. Neuwied/Berlin: Luchterhand.

Schaupp, S. (2024): Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten. Berlin: Suhrkamp.

[1] Sublimierung, wörtlich „Veredelung“, bedeutet in der Psychoanalyse den Aufschub von Triebwünschen und die Kanalisierung von (primär sexueller) Triebenergie in gesellschaftlich nützliche Aktivitäten. Für Sigmund Freud waren Triebverzicht und Sublimierung daher Grundvoraussetzungen jeder Zivilisation. Mit dem Begriffspaar der repressiven Entsublimierung möchte Marcuse auf den Punkt bringen, dass der Zwang zum Triebverzicht im Spätkapitalismus zwar gelockert wird, diese Lockerung aber insofern repressiv ist, als menschliche Bedürfnisse dabei bis ins innerste von der Gesellschaft geformt und auf die Erfordernisse von Konsum und Arbeit zugeschnitten werden.

[2] Der Begriff der „Toilettenbrust“ verweist auf die psychoanalytische These, dass Teil des Heranwachsens jedes Kindes die kränkende und ängstigende Erfahrung ist, dass die Mutter keine unerschöpfliche Quelle unbedingter Bedürfniserfüllung, sondern ein eigenständiges bzw. -williges Wesen ist. In der Nicht-Erfüllung von Bedürfnissen erfahre das Kind sich erstmals als getrennt von der Mutter und damit einer versagenden Welt ausgesetzt, vor der es keine Instanz absoluter Bedürfniserfüllung und Sicherheit gibt.

[3] In der Psychoanalyse steht das Über-Ich für die innerpsychische Instanz, die bestimmte Ge- und Verbote diktiert und bei Freud aus der Verinnerlichung der väterlichen Autorität entsteht. Während bei Freud das Über-Ich vor allem als verbietende Instanz und darin als Vermittlungsinstanz gesellschaftlicher Normen und Verbote auftritt, ist das Über-Ich bei Lacan eines, das Genuss einfordert. Auch wenn Lacan dies primär als psychoanalytisches Argument verstanden hat, erfreut sich Lacans Ausführungen zum Genuss auch in soziologischen Zeitdiagnosen an Beliebtheit: Mit ihm lässt sich argumentieren, dass Konformismus heute nicht mehr (allein) in Disziplin und Gehorsam, sondern in Konsumismus und Selbstverwirklichung besteht: Jede*r soll genießen. Es ist diese Konvergenz, die Lacan so attraktiv für kritische Analysen der Gegenwartsgesellschaft macht.


Konstantin Klur ist Doktorand am ISF München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitssoziologie, Subjekttheorie und Kritische Theorie. Derzeit arbeitet er am DFG-Projekt Politics of Inscription, das sich mit digitaler und ökologischer Transformation in der chemischen Industrie beschäftigt.

Email: konstantin.klur@isf-muenchen.de