Ein Bericht zur interdisziplinären Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie 2022
TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem? Epistemologien_Agencies_Institutionen_politische Ökonomie & [_]
Vom 25. bis 26. November 2022 fand in Oldenburg die 19. Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie statt. An zwei Tagen versammelten sich rund 35 Interessierte, um unter dem Titel “TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem?” Forschungsarbeiten vorzustellen und zu diskutieren, Anregungen zu sammeln und ins Gespräch zu kommen. In diesem Beitrag wollen wir, ein Teil des Organisationsteams, von der Veranstaltung berichten und die Tagungskonzeption, unsere Motivation und Erfahrung reflektieren. Dabei möchten wir das entstandene Mosaik an Ideen und Konzepten der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung aus Sicht vieler (Nachwuchs-) Wissenschaftler*innen teilen.
Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie
Die Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie (NGU) ist ein 2002 gegründetes, loses Netzwerk von Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit den Themen Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit beschäftigen. Jedes Jahr wird von einem wechselnden Organisationsteam eine Tagung ausgerichtet, die sich in den letzten Jahren thematisch der sozial-ökologischen Transformation widmete und sich kritisch mit Herrschaftsverhältnissen, Ungleichheiten und Fragen der Solidarität auseinandersetze.
Grundsätzliches Ziel der NGU-Tagung ist es, einen Rahmen bereitzustellen, der es Nachwuchswissenschaftler*innen ermöglicht, über aktuelle und im Entstehungsprozess befindliche Forschungsarbeiten zu diskutieren, in gegenseitiger Anregung neue Impulse zu schaffen und sich über Berufsperspektiven und universitären Alltag sowie damit verbundene Herausforderungen als wissenschaftlicher Nachwuchs auszutauschen. Damit übernimmt diese Veranstaltung eine einzigartige vermittelnde Funktion innerhalb der (umwelt-)soziologischen Nachwuchscommunity und darüber hinaus.
Das Organisationsteam im Jahr 2022 setzte sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Universitäten und Institutionen zusammen: Nadine Gerner (Universität Münster), Lina Hansen, Marvin Neubauer (Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ, Leipzig), Leonie Reuter (Freie Universität Berlin), Ronja Schröder (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg), Lea Zentgraf (Freie Universität Berlin). Die Gruppe hat sich über einen Aufruf im NGU-Netzwerk zusammengefunden und zeichnet sich durch verschiedene fachliche Hintergründe und Schwerpunkte aus. Über die unterschiedlichen thematisch-disziplinären Ausrichtungen hinweg bestand eines der verbindenden Elemente im gemeinsamen Interesse an sozial-ökologischen Krisendiagnosen, damit zusammenhängenden Bewältigungsstrategien und Transformationsidealen und den Feldern ihrer gesellschaftspolitischen Aushandlung.
Anfänge #Ideen #Fragen
Herausforderung und Chance zugleich war die virtuelle Zusammenarbeit von verschiedenen Standorten aus. Der Planungsprozess fand bis auf ein Präsenzwochenende in Berlin zur Erarbeitung des Call for Participation digital statt. Die Organisation der Tagung begann im April 2022 und wurde – von der räumlichen Planung, über die Beantragung von Finanzierung[1] und die Einladung von Keynote-Speaker*innen bis hin zur Kommunikation mit Teilnehmenden – über mehrere Monate intensiv vorangetrieben. Regelmäßige Treffen per Videocall für inhaltliche Diskussionen, Bürokratiebewältigung und informellen Austausch fanden alle zwei Wochen statt. Zentral war bei der Tagungskonzeption längst nicht nur die inhaltliche Themensetzung, sondern immer auch die Frage, durch welche Formate, Abläufe und Impulse wir einen guten Rahmen bereitstellen könnten. Wie soll eine Tagung aussehen? Was soll sie leisten und welche akademischen Konventionen wollen wir explizit nicht reproduzieren? Wie lässt sich ein möglichst barrierearmer Zugang ermöglichen? Was bedeutet es, eine Tagung für den Nachwuchs zu organisieren und wer genau gehört dem Nachwuchs überhaupt an? Inwiefern kann eine Tagung selbst transformativ sein?
Call for Participation
Bei der Entwicklung des Calls wurde viel diskutiert und ausgehandelt. Eine interdisziplinäre Gruppe stand vor dem Problem des gegenseitigen Verstehens. Eine Lösung fanden wir durch eine offene Form der Textproduktion und Vielfältigkeit von Theorien und Konzepten. Wiederkehrender Reibungspunkt war die eigene Positionierung im aktivistischen oder wissenschaftlichen Feld als politisch. Wie sehr sollten wir unsere eigene Situiertheit explizit machen? Mit einer Leerstelle [ _ ] im Titel des Calls wollten wir dieser Ungeklärtheit Rechnung tragen und verdeutlichen, dass die Tagung auch als Plattform für weitere, bisher nicht mitbedachte Perspektiven und Problematisierungen fungiert.
Ausgangspunkt unserer inhaltlichen Überlegungen zum Call war das Verständnis der sozial-ökologischen Transformation als ein konfliktgeladener, sozialer Prozess, der von vielen verschiedenen Akteur*innen, Bewegungen und Institutionen beeinflusst wird, in dem unterschiedliche Episteme, Narrative und Wissensordnungen in Konflikt, Verhandlung und Solidarität zueinander stehen und in dem divergierende Interessen zum Tragen kommen. Hier setzte die 19. Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie dekonstruierend an und stellte die Fragen nach dem „für wen?“, „durch wen?“ und „mit wem?“: Durch welche konkreten Akteur*innen wird die Transformation auf welche Weise vorangetrieben, verhandelt, gehemmt, gelenkt und erstritten? Wer profitiert, wer verliert und wer bleibt unsichtbar?
Mit Blick auf unterschiedliche Akteur*innen, Interessen und Betroffenheit(en) (Dörre et al. 2019, Arruza et al. 2019) stellten wir im Rahmen der Nachwuchstagung das Konzept des einen universellen Transformationspfades in Frage. Zentrale Anknüpfungspunkte waren pluriverse Perspektiven (Escobar 2018, 2020, Harding 2018), Kritik an hegemonialen Transformationsdiskursen (Shiva 1991, Harcourt 2015) sowie (Nord-Süd-)Solidarität und Dekolonisierung (Lugones 2010). Dabei orientierten wir uns an den theoretischen Frameworks um Agencies, Episteme, Institutionen und politischer Ökonomie.
Bei der Frage, wer die Transformation als Kooperationspartner*innen gestaltet oder lediglich in der Tradition kolonialer Ausbeutungsmuster mitgedacht wird, geht es um Begriffe der Nord-Süd-Solidarität und Dekolonisierung (Mohanty 2003, Lugones 2010). Wer muss solidarisch sein und wie kann Solidarität gestaltet werden, sodass es nicht eine Transformation für einige wenige, sondern für alle ist und wird? Wie öffnen wir den Raum für plurale Epistemologien und Agencies (Escobar 2018, 2020, Harding 2018)? Welche Rolle spielen Machtverhältnisse in solchen Koordinierungs- und Aushandlungsprozessen? Wie denken wir bestehende Herrschaftsverhältnisse sowie Ungleichheitsstrukturen in Transformationsprozessen mit?
Der Call for Participation wurde Ende August über zahlreiche Verteiler verschickt, die Bewerbungsfrist war der 15. September. Es gab großes Interesse und mehr Bewerber:innen als Vortragsslots. Die Einladungen und das Programm wurden Ende Oktober veröffentlicht.
Die Tagung #Erster Tag
Die Tagung fand im Bibliothekssaal der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit circa 35 Personen in Präsenz statt. Das Programm setzte sich aus fünf thematischen Sessions zusammen, die wiederum jeweils aus zwei Inputs von Nachwuchswissenschaftler*innen und einer anschließenden vortragsübergreifenden Fragerunde und Diskussion bestanden. Das Thema der Konferenz wurde außerdem von zwei Keynotes verhandelt und um deren aktivistische, feministische und dekoloniale Perspektiven erweitert: Dr. Manuela Zechner – u.a. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Jena im BMBF-Forschungsprojekt „Movements of Europe. Transnationale soziale Bewegungen und Bruchlinien der Solidarität“ und Ashish Kothari – u.a. Soziologe und Co-Gründer von Kalpavriksh. Moderiert wurden die Panels und Keynotes durch die Organisator:innen der Tagung. Neben den genannten inhaltlichen Sitzungen gab es auch ein informelles Rahmenprogramm, das dem offenen Austausch und dem Netzwerken der Nachwuchswissenschaftler*innen diente.
Die Tagung startete mit einem optionalen Auftakt am Freitagmorgen. Manuel Wagner und Pauline Lürig leiteten einen Workshop zu Kollaborativem Denken & Schreiben. Dabei wurde Transformation als more-than-human Care-Beziehungen mit Boden nicht nur diskutiert, sondern die Teilnehmenden konnten mit Collagematerial und Kompost diese Beziehungen auch ganz praktisch erleben. Das Workshopformat ermöglichte einen alternativen theoretisch-praktischen Einstieg in die Tagung, was von den Teilnehmenden begeistert angenommen wurde.
Nach einer Begrüßung und ersten Kennenlernrunde wurde durch eine moderierte Diskussion und einige Reflexionsübungen ein gemeinsamer Rahmen für die Tagung gesetzt. Anhand von Wortwolken ließen sich die Interessensgebiete der Teilnehmenden sowie erste Perspektiven auf den Transformationsbegriffs darstellen. Außerdem wurde anhand von drei Leitfragen die übergeordnete Frage diskutiert: Wie schaffen wir es, einen Raum für Wissenschaft so zu gestalten, wie wir ihn uns wünschen? Vor dem ersten Panel fand eine kurze Feedbackrunde statt, um Wünsche, Ideen und Vorschläge an einer Pinnwand sichtbar zu machen und über die Tagung hinweg immer wieder zu nutzen und zu ergänzen.
#Session 1: Change Agents in der Transformation: Konzeptionelle Überlegungen zu Agency von Unten und Außen. Die erste Session begann Niklas Stoll (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) mit seinem Vortrag „Transformation in Bewegung: Soziale Bewegungen als Treiber der sozialökologischen Transformation“. Dabei bestand der Ansatz vor allem darin, die Klimabewegung konzeptionell greifbar zu machen, Strukturen und Dynamiken zu abstrahieren, anhand bestimmter Kriterien (z.B. Grad der Institutionalisierung oder Radikalität) zu systematisieren und schließlich auch zu kartieren. Nach einer kurzen Fragerunde ging es weiter mit dem Vortrag „Outsiders‘ Agency to Change the System – Überlegungen zu einer neuen Perspektive auf Akteur:innen des Wandels im Kontext von Nachhaltigskeitstransformationen“ von Daniel Peter (Technische Universität Dresden). Dabei wurde argumentiert, dass sich ‘change agents’ immer durch eine epistemische und/oder institutionelle Differenz zum Status Quo auszeichnen und es sich deshalb lohnt, das Verhältnis von ‚Outsidern‘ und ‚Insidern‘ systematisch auf ihre konstitutiven Merkmale und Wechselwirkungen hin zu untersuchen. Insgesamt bot die Session somit erste theoretisch-konzeptionelle Impulse für die weitere Auseinandersetzung mit Akteur*innen der Transformation. Insbesondere die Rolle der Klimabewegung als wesentliche Transformationsakteurin wurde im Verlauf der Tagung und über verschiedene Vorträge hinweg immer wieder stark gemacht und auf ihre transformativen Potenziale hin befragt. Inwiefern können Bewegungsinitiativen vorherrschende Normen, Diskurse, Subjektivitäten, Praktiken und Verfahren, Institutionen und materielle Infrastrukturen verändern und damit eine transformative Wirkung entfalten?
#Session 2: Agri-Food-Systeme in der Transformation – Part I: Von Akteur*innen, Praktiken & Institutionen… Dieser erste Teil von zwei Sessions zu Agri-Food-Systems fokussierte auf Akteur*innen und Praktiken. Dazu passend begann die Session mit einem Beitrag zu „Actors of sustainable food consumption? A Comparison of Individual and Institutional Responsibilities in Urban Food Acquisition” von Mabel Killinger (Leibniz-Institut für Ökologische Raumentwicklung Dresden). Franziska Ohde (Goethe Universität Frankfurt) stellte im Anschluss ihre Forschung “Starting a Revolution in the Garden? Praxeological considerations on permaculture” vor. Beide Referentinnen beantworteten zahlreiche Fragen zur Anwendung der Resonanztheorie auf den Forschungsbereich der (nachhaltigen) Ernährung, dem Konzept der Mind-Action-Opportunity-Gap, den Grundlagen der Permakultur: Sorge für die Erde, Sorge für die Menschen und fair-share sowie Natur-Sorge-Beziehungen und (Re)Produktion. Die Diskussion zeigte ebenso Unterschiede wie auch Verbindungen zwischen alternativen Konsum- und Produktionspraktiken in Deutschland und Ruanda auf. Insgesamt spielte Forschung zum Agrar- und Ernährungssystem eine große Rolle bei der Tagung; immer wieder wurden Agri-food-systeme dabei kritisch auf ihre Nachhaltigkeit und Umwelt- sowie kulturell-sozialen Impakt hinterfragt aber auch als Räume für sozio-ökologische Transformation identifiziert und untersucht.
#Session 3: Agri-Food-Systeme in der Transformation – Part II: …bis zum strukturellen Wandel? Den Anfang der dritten Session machte Julia Tschersich (Utrecht University), die eine gemeinsame Forschungsarbeit mit Stefanie Sievers-Glotzbach (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) zu „The transformative potential of Seed Commons – Applying the social-ecological transformation framework to agri-food systems“ vorstellte. Danach ging es weiter mit Elke Verhaeghes (Ghent University) Vortrag zu „Transformations in the EU anti-deforestation policies: The more things change the more they stay the same”. In der anschließenden Diskussion ging es um Fragen nach adaptierten lokalen Lösungen und deren Einfluss auf die sozio-ökologische Transformation und inter- und intragenerationale Gerechtigkeit. Beide Vorträge hatten einen Analyserahmen eingeführt, anhand derer sich Transformation von anderen Formen des inkrementellen Wandels abgrenzen lässt, und transformative Prozesse in wesentlichen Phasen, Wendepunkten, und ihrer Beeinflussung durch hemmende und fördernde Faktoren nachvollzogen werden können. Zur Diskussion standen dann verschiedene Anwendungsmöglichkeiten dieser Frameworks, zum Beispiel um das transformative Potenzial von zivilgesellschaftlichen Nischenpraktiken (Seed Commoning) bzw. politischen Regulierungen (EU anti-deforestation policies) zu verstehen. Außerdem wurde über Wissenshierarchien und die fehlende Anerkennung von Degrowth, Postgrowth, verkörpertem, indigenem und more-than-human Wissen debattiert.
Der erste Tag der 19. NGU-Tagung endete mit einer inspirierenden Keynote zum Thema „Earthcare struggles, drawing power from vulnerability // Engaged research practice in/with/as movements“ von Dr. Manuela Zechner, die als Activist-Scholar über verschiedene Konzepte und Logiken von Care sprach: taking care of, caring about, caring with, care-receiving, caregiving. Diese konzeptionelle Rahmung kontextualisierte sie anschließend mit Beispielen aus ihrer partizipativen aktivistische Co-Forschung aus Deutschland, Spanien und weiteren europäischen Ländern. Dabei ging es unter anderem um Fragen nach Momenten der Vulnerabilität, der Kraft der Reproduktion, Beziehungen in einer more-than-human world, Enteignung und Commons, sowie die Bedeutung des Care-Konzepts für den gesellschaftlichen Umgang mit der Klimakrise. Ein zentraler Impuls, der von Manuela Zechners Keynote ausging und sich anschließend weiter durch die Tagung zog, richtete sich auf das Prinzip kollaborativer Forschung und den Anspruch, nicht nur über Bewegungsakteur:innen zu forschen, sondern mit ihnen. Die Diskussion berührte damit auch die normativen Dimensionen der Transformationsforschung.
Die Tagung #Zweiter Tag
Der Samstag startete mit einer Keynote von Ashish Kothari. Der Austausch begann mit einigen Fragen zu Kotharis Selbstverständnis als Aktivist und Forscher, prägenden Momenten seiner Karriere, sowie den größten Forschungslücken in der aktuellen Transformationsforschung. Zunächst stellte Kothari sein Weltverständnis des Pluriversums dar: Anhand basisdemokratischer Beispiele im Kontext Indien und anderen transnationalen Graswurzel Bewegungen verdeutlichte er den kontextspezifischen, aber dennoch verwobene Widerstand gegen das Universum, welches auf Unterdrückung und kapitalistischer Ausbeutung beruht. Daran schloss er die Notwendigkeit von Nord-Süd Allianzen als politische Forderung an. Als Schwerpunkt betonte der Activist-Researcher die Rolle der Frauen als Vorreiterin und stellte ihre Stimmen und Praktiken des Widerstands heraus.
#Session 4: Ländliche Zivilgesellschaft in Transformation: Vom Objekt zum Subjekt des Wandels? In dieser Session ging es anhand von zwei Fallbeispielen aus Finnland und Deutschland um zivilgesellschaftliche Akteur*innen in konkreten Transformationsprojekten. Jana Holz (Universität Jena) teilte ihre Forschungserfahrungen zu „Sozial-ökologische Transformationen und Konflikte ländlicher Bioökonomien – Diskussion anhand einer Fallstudie aus Finnland“. Nach einer kurzen Fragerunde ging es weiter mit dem Vortrag „Empowerment zivilgesellschaftlicher Organisationen im Strukturwandel: eine Fallstudie der Lausitz“ von Nora Stognief (Europa-Universität Flensburg). Dabei wurde u.a. erörtert, wie sich Machtformen klassifizieren und in Hinblick auf Durchlässigkeiten, Destabilisierung und Neuordnung untersuchen lassen. Inwiefern sind spezifische Akteurskonstellationen, Strategien oder Policies in der Lage, bestehende Machtverhältnisse aus dem Gleichgewicht zu bringen und damit möglicherweise eine Voraussetzung für Transformation zu schaffen? Welche Rolle spielt dabei das Empowerment von zivilgesellschaftlichen Organisationen? In der Diskussion ging es um Konflikte lokaler Akteur:innen und deren Abhängigkeit(en) von der Forst- und Braunkohleindustrie, die Betroffenheit vor allem ländlicher Gemeinschaften durch Transformationsprojekte, und die Frage, wie partizipative Transformation lokal funktionieren kann. Außerdem wurde versteckte Umweltzerstörung durch vermeintlich grüne Folgeprojekte thematisiert und kritisch hinterfragt, inwiefern die Bioökonomie Teil der sozio-ökologischen Transformation sein kann.
#Session 5: Wissen in der Transformation: Zur Rolle von Wissenschaft und Utopie Zunächst ging es in Rubén Kaisers (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Vortrag um „Listen to the Science? – Die Klimabewegung zwischen system-change und positivistischem Wissenschaftsverständnis“. Unter dem Titel „From Recipient to Agent – Knowledge Sharing and Co-Generation as Tools to Bridge the Gap between Westernized and Localized forms of Science in Agroecology“ stellte anschließend Linda Koch (Universität Würzburg) die Ergebnisse und Erfahrungen ihrer Masterarbeits-Forschung vor. In beiden Vorträgen wurde die Rolle von Wissen in der Transformation thematisiert, sowohl in Form von wissenschaftlichem Wissen als auch in Form praktischen Erfahrungswissen. Welche Formen von Wissen fließt in Transformation und in Transformationsforschung ein? Inwiefern gilt es die gängige Trennung und häufig damit einhergehende Hierarchisierung von wissenschaftlichem Wissen einerseits und lokalem, situiertem, traditionellem Wissen anderseits zu überdenken bzw. wie lassen sich verschiedene Wissensformen für eine Transformationen praktisch zusammenbringen lassen? Beide Vortragenden stellten außerdem mögliche Konflikte und Herausforderungen des wissenschaftlichen Arbeitens vor; von der Finanzierung, über methodische Fragen bis hin zu moralisch/ethischen Aspekten der empirischen Forschung. In der gemeinsamen Diskussion wurden diesbezüglich immer wieder Rückbezüge zu vorherigen Debatten der Tagung deutlich, insbesondere zu den Keynotes von Manuela Zechner und Ashish Kothari, und dem Plädoyer für kollaboratives und transformatives Forschen.
Um gemeinsam einen Abschluss zu finden, waren alle Teilnehmenden zu einer Reflexion über die Fragen eingeladen: (Wie) Haben wir es geschafft, einen Raum für Wissenschaft so zu gestalten, wie wir es uns wünschen? und Was nehmen wir für zukünftige Tagungsorganisitionen mit? Den Teilnehmenden bot sich hier noch einmal die Gelegenheit, Feedback zur Programmgestaltung sowie zur Umsetzung zu geben und Wünsche und Ideen für zukünftige NGU-Tagungen zu sammeln. Besonders stark wurde dabei immer wieder der Bedarf an Vernetzungsmöglichkeiten auf Tagungen betont – sowohl in Form von ausreichend freier Zeit vor und nach den inhaltlichen Panels, als auch in stärker organisierter Form, beispielsweise über ein Board mit persönlichen Interessenssteckbriefen oder forschungsbezogenen Gesuchen.
TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem?
Die 19. NGU-Tagung öffnete einen Raum für soziologische Reflexion und wichtige inhaltliche Verzweigungen verschiedener Themen und Perspektiven auf die sozio-ökologische Transformation. Systemisches Denken und die Multidimensionalität der Transformation bildeten dabei eine gemeinsame Grundlage der Teilnehmer*innen.
Besonders Fragen nach einer gerechten Transformation aus intersektionaler Perspektive, die über die Kategorien von Klasse, Gender und Race hinausgeht und skalare Achsen wie urban-rural, lokal-global und verschiedene Temporalitäten von Transformation mitdenkt und gestaltet, spielten eine zentrale Rolle. Auch Wissensproduktion und -weitergabe und die gewaltsame Dominanz westlichen/akademischen Wissens wurde viel und kritisch diskutiert. Dabei zeichnete sich die Notwendigkeit ab, für eine gerechte Wissenstransformation pluriverse Perspektiven und mehr-als-Menschen-Perspektiven als Wissensformen praktisch und theoretisch zusammenzubringen. Konzepte, wie Aktivist-Research oder auch verkörpertes und erfahrungsbasiertes Wissen als Orte des Widerstands wurden vor diesem Hintergrund als Praktiken der gelebten sozio-ökologischen Transformation besprochen.
Lokale und situierte Praktiken der Transformation, wie beispielsweise Seed Commoning, Permakultur, kritische Policy und Care Practices, die sich gleichzeitig auch in transnationalen Netzwerken weiterentwickeln und sich dabei auf globalen Skalen entfalten, gibt es bereits viele und diverse – das haben die Beispiele aus den Vorträgen verdeutlicht. Ebenso wurde gezeigt, wie soziale Bewegungen durch ihre alternativen Diskurse, Verfahren, und Materialitäten als Akteur:innen des Wandels und des Widerstands gegen hegemoniale, ausbeuterische Strukturen wirken: Sie leisten Pionierarbeit für eine faire und planetare Transformation.
Das transformative Potenzial von bottom-up Ansätzen beruht u.a. darauf, unter dem Motto „Alle an einen Tisch” verschiedene Perspektiven zusammenzubringen und Gerechtigkeit somit nicht nur als Ergebnis von Transformation anzusteuern, sondern – im Sinne von procedural justice – auch als Maßstab für ihren Prozess.
In vielen Diskussionen wurde der Transformationsbegriff nicht nur auf Natur/Umwelt und ökologische Nachhaltigkeit bezogen, sondern nahm auch soziale Aspekte und Ungleichheiten in den Blick. Die dabei analysierten Machtstrukturen, die unweigerlich in einem kapitalistischen System mit Transformation verbunden sind, müssen für viele Teilnehmenden hierarchisch und planetarisch verstanden und bekämpft werden. Dazu gehören auch neokoloniale und patriarchale Kontinuitäten, die den Nachhaltigkeits- und Transformationsbegriff oft vereinnahmen und verwässern. Ein kritisch besprochenes Beispiel war hier der Ansatz der Bioökonomie in seinen verschiedensten Umsetzungsformen. In anderen Debatten ging es auch immer wieder um inkrementelle Regulierungen; diese dürfen kein Pflaster für ein Problem sein – wie so häufig in verschiedenen (inter-)nationalen Umwelt- und Nachhaltigkeitsgremien zu beobachten. Stattdessen müssen strukturelle Veränderungen mit Blick auf eine gerechte und situierte Transformation die Grundlage für politische Maßnahmen und Gesetzgebung sein.
Insgesamt veranschaulichten die Vorträge und Diskussionen der Tagung sehr gut, dass es angesichts unterschiedlicher Akteur*innen, Interessen und Betroffenheit(en) den einen universellen Transformationspfad kaum geben kann. Zahlreiche Kräfte, die auf gesellschaftlichen Wandel einwirken, wurden während der Tagung anhand verschiedener Konzepte umrissen und durch Beispiele veranschaulicht – von sozialen Bewegungen und Außenseiter*innen als change agents, über zivilgesellschaftliche Nischenpraktiken und soziale Innovationen, verschiedene Wissensformen und Erzählungen, bis hin zu politischen Regulierungen und Programmen. Inwiefern diese Kräfte auf ihre Art dazu beitragen, den sozial-ökologischen Status-Quo gezielt oder unbewusst zu stabilisieren, zu reformieren oder zu transformieren, und inwieweit das auf gerechte Weise geschieht, wird die sozialwissenschaftlichen Forschung insgesamt und sicherlich auch die umweltsoziologischen Nachwuchscommunity weiter beschäftigen. Damit verliert auch die Ausgangsfrage der Tagung nicht an Relevanz: TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem?
Referenzen & Lesetipps
- Arruzza, C./Bhattacharya, T./Fraser, N. (2019): Feminismus für die 99%: ein Manifest. Berlin: Matthes & Seitz.
- Dörre, K./Rosa, H./Becker, K./Bose, S./Seyd, B. (2019): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Wiesbaden: Springer VS.
- Escobar, A. (2018): Designs for the pluriverse: Radical interdependence, autonomy, and the making of worlds. Durham: Duke University Press.
- Escobar, A. (2020): Pluriversal politics: The real and the possible. Durham: Duke University Press.
- Harding, S. (2018): One Planet, Many Sciences. In: Oslender, U./Kashfi, E./Escobar, A./Harding, S./ Mignolo,W./Ouattara, I./Samnotra, M./Ahmad, Z./Mehta, V./Connell, R./Burchardt, H.-J./Boatca, M./Walsh, C./Ziai, A. [Hrsg.]: Constructing the Pluriverse. Durham: Duke University Press, S. 39-62.
- Shiva, V. (1991): The violence of the green revolution: third world agriculture, ecology and politics. London: Zed Books.
- Lugones, M. (2010): Toward a decolonial feminism. Hypatia, 25. Jg., Heft 4, S. 742-759.
[1] Kooperationen wurden mit dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Stiftung Leben & Umwelt / Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen, der Universitätsgesellschaft Oldenburg e.V., der Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung in Niedersachsen, und den Sektionen Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie, Wissenssoziologie und Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie geschlossen.
Lina Hansen (sie/ihr)
hat in Bremen, Groningen und Tiflis studiert und in Jena den soziologischen Master mit dem Schwerpunkt „Gesellschaftliche Transformation und Nachhaltigkeit“ erfolgreich abgeschlossen. Sie organisiert gerne transdisziplinäre feministische Konferenzen und arbeitet aktuell an einem Promotionsvorhaben zum Thema ökofeministische Solidarität. Sie liebt es gemeinschaftlich zu ackern und zum Kennenlernen einer anderen Person den Garten dieser zu besuchen.
Leonie Reuter (sie/ihr)
hat in Lüneburg, Bordeaux, Roskilde und Jena studiert und zuletzt ihren Master in Soziologie mit dem Schwerpunkt „Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation“ abgeschlossen. Seitdem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katastrophenforschungsstelle der FU Berlin im Bereich der sozialwissenschaftlichen Klimawandelforschung. Aktuell interessiert sie sich besonders für die sozialen Ursachen und Folgen des Klimawandels, die Vielfalt sozial-ökologischer Utopien und die Methode der Deutungsmusteranalyse.
Ronja Schröder (sie/ihr)
hat an der Universität Kassel Soziologie studiert. Sie ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Sozialtheorie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sie arbeitet an einem Promotionsvorhaben zum Thema Waldschäden und das Erleben sogenannter ökologischer Krisen. Aktuell interessiert Sie sich insbesondere für soziologische Sozial- und Gesellschaftstheorie, Atmosphärenforschung, Leibphänomenologie und qualitative Methoden der Sozialforschung.
ronja.schroeder@uni-oldernburg.de
Lea Loretta Zentgraf (sie/ihr)
hat in Heidelberg, São Paulo und Berlin studiert. Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der BMBF-Nachwuchsgruppe „Food for Justice: Power, Politics and Food Inequalities in a Bioeconomy“ am HCIAS an der Universität Heidelberg. Sie promoviert in Soziologie an der Freien Universität Berlin. In ihrer Forschungsprojekt untersucht sie soziale Bewegungen, die sich für eine sozio-ökologische Transformation einsetzen und für ein faires, gerechtes und nachhaltiges Ernährungssystem kämpfen. Besonders interessieren sie anti-koloniale, feministische* und Nachhaltigkeits-Debatten und das nicht nur rund ums Thema Essen.