Rezension zum Buch "Klimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende"
„Schuldig sind immer die anderen". Rezension zu „Klimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende“
Quent, M./Richter, C./Salheiser, A. (2022): Klimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende. München: Piper, 288 S., 20 EUR. ISBN: 978-3-492-06399-9
Kontext und Inhalt
Dresden am Nachmittag des 31.12.2022: Die Wetterstationen registrieren 19 Grad. Wenige Stunden später zum Jahreswechsel steht das Thermometer noch immer bei milden 17 Grad (Kachelmannwetter 2023). Damit handelt es sich um den wärmsten Silvestertag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. In bestimmten Regionen fehlten weniger als drei Grad, um von einer Tropennacht zu sprechen – mitten im Winter (Deutscher Wetterdienst 2023).
Die Soziologen Matthias Quent, Christoph Richter und Axel Salheiser begreifen den Klimawandel als eine „monströse Bedrohung“ (S. 22) und ergründen in „Klimarassismus“, weshalb die ökologische Wende entgegen besseren Wissens nicht zündet. Dabei gehen sie im rechten Spektrum auf Spurensuche. Ihnen zufolge ist die rechte Abwehrpolitik „eine der größten Herausforderungen für die Rettung des Planeten“ (S. 14), denn rechte Ideologien „wirken wie Valium auf ein nervöses gesellschaftliches Unterbewusstsein, das sich am Status Quo festklammert“ (S. 179). Die Autoren wollen zeigen, „welche Motive, Netzwerke, Ideologien, Muster und Strukturen“ (S. 14) hinter der rechten Abwehr der ökologischen Wende stehen und richten sich an jene, die verhindern wollen, dass die Rechte das Klimathema zur Mobilisierung nutzt (S. 242), denn: „Der Kampf der Rechten gegen eine ökologische Wende […] ist auch ein Angriff auf die Demokratie“ (S. 180). Mindestens drei Interessensgruppen werden adressiert: Klimainteressierte, Rechts(-extremismus)interessierte und Ungleichheitsinteressierte. Zwar gibt es sozialwissenschaftliche Forschungen zum Zusammenhang von rechten Ideologien und Klimawandelpositionen (z. B. Dilling et al. 2022, Reusswig und Schleer 2021, Sommer et al. 2022), aber „Klimarassismus“ setzt einen neuen Impuls, da es diese Verbindung vor dem Hintergrund kapitalismusevozierter globaler Ungleichheiten aufarbeitet. Sprachlich verständlich werden die Lesenden in 13 Kapiteln durch den Dschungel rechter Narrative und Netzwerke geführt. Der erste Teil zeichnet in historischer Perspektive nach, wer Verursachende des Klimawandels sind (Kapitel 1 und 3) und welche klimatischen (Kapitel 2) und sozialen Folgen (Kapitel 4) der fortschreitende Klimawandel hat. Der zweite Teil fokussiert auf die nationale und internationale Rechte und beschreibt deren Interessen, Erzählungen, Netzwerke und Strategien hinsichtlich des Klimathemas. Seite für Seite erschließt sich, wie sich unterschiedliche rechte Bewegungen und Parteien unter der Flagge der „klimaskeptischen Antiökolog:innen“ formieren (S. 181), geeint z. B. in der Ablehnung staatlicher Interventionen für mehr Klimaschutz (Kapitel 7 und 11) oder einer erhöhten Wissenschaftsskepsis (Kapitel 10).
Autorenperspektiven und Rassismus als Konzept
Die Autoren vertreten eine kapitalismuskritische Position und könnten damit umgehen, würde man sie als Ökosozialisten bezeichnen (S. 243). In Rückgriff auf Lessenichs Konzept der Externalisierungsgesellschaft postulieren sie, dass „wir in rassistische Strukturen verstrickt“ sind (S. 28). „Wir handeln klimarassistisch, weil wir es können und weil wir es nicht anders können“ (S. 28, Hervorhebung im Original). Allerdings wird mit dem Rassismuskonzept recht leger umgegangen. Stellenweise wird Rassismus und Ungleichheit austauschbar verwendet. So heißt es beispielsweise: „Klimarassismus beschreibt die ungleiche Verteilung von Folgen und Kosten, die durch den […] Klimawandel entstehen“ (S. 60). Zwar sind Rassismus und Ungleichheit eng verbunden (Scherr 2020), aber eine Erläuterung, weshalb Rassismus geeigneter erscheint, um „globale Klimaungerechtigkeiten“ (S. 55) aufzuarbeiten, wird vermisst. Ein Beispiel: Die Autoren bezeichnen den Umstand, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland häufiger in Gebieten mit erhöhten Umweltbelastungen wohnen, als „Umweltrassismus“ (S. 67). Aber handelt es sich hierbei tatsächlich um Rassismus als Herrschaftsverhältnis und Strategie zur Ungleichheitslegitimation (Foroutan 2020)? Die Wohnungsforschung zeigt, dass sich Vermietende keineswegs nur an askriptiven Merkmalen orientieren, sondern vor allem an der Zahlungsfähigkeit (z. B. Auspurg et al. 2019, Ghekiere et al. 2022). Damit dürfte es sich wohl eher (oder zumindest auch) um Umweltklassismus handeln, oder aber um einkommensbezogene Wohnungleichheiten, da auch Nicht-Migrant:innen mit geringen Einkommen überproportional häufig in gesundheitsschädlichen Gegenden leben (Umweltbundesamt 2021). Es entsteht der Eindruck, dass das Rassismuskonzept auch deshalb gewählt wurde, um die Frage der Täterschaft adressieren zu können. Zwar ist Rassismus auch in institutionelle Verfahrenslogiken und Handlungsroutinen eingeschrieben (El-Mafaalani 2021), aber steht doch näher an der ‚Schuldfrage‘ als strukturelle Ungleichheiten: Gegen rassistische Diskriminierung kann man klagen, gegen soziale Ungleichheiten nicht. Einerseits legt die Nutzung des Rassismuskonzepts den Finger in die Wunde, denn wer möchte schon Klimarassist*in sein? Andererseits spielen die Autoren die ‚Schuldkarte‘ selbst aus, deren Einsatz sie durch die Rechten kritisieren (S. 58).
Überzeugende Erzählung auf wackeligem Untergrund
Die größte Stärke des Buches liegt in der erfrischend klaren und plausiblen Verknüpfung von Antiökologismus und Neoliberalismus. Die Übergänge von neoliberalen und libertären Gruppen zur radikalen Rechten sind „fließend“ (S. 173). Der Trumpismus ist das „offensichtlichste Resultat dieser neoliberal-rechtsautoritären Hochzeit“ (S. 29). Beide spannen einen ‚Klimaabwehrschirm‘, unter dem rechte Bewegungen und Gruppierungen Allianzen schmieden, die auch größere Bevölkerungsteile ergreifen können. Sie eint eine tiefsitzende Skepsis gegenüber dem Staat, der weder zum Klimaschutz noch zum Ausgleich sozialer Ungleichheiten eingreifen soll (S. 236). Gleichwohl wird dieser Erkenntniskern von drei grundlegenden Schwächen ummantelt.
- a) Rechts ist, was du draus machst
Der Buchuntertitel provoziert die Frage: Wer sind ‚die‘ Rechten? Entsprechend der Textgattung kann eine Aufarbeitung verschiedenster Varianten rechter Ausrichtungen freilich nicht erwartet werden. Die Autoren sprechen ein nicht-akademisches Publikum an, das man mit Einzelheiten definitorischer Zuschnitte und Überlappungen nicht langweilen muss. Aber, gerade angesichts des aufklärerischen Impetus der Autoren, wäre es kein verschwendetes Papier gewesen, klarzumachen, um wen es geht. Mal heißt es: „In diesem Buch zeigen wir, wie Rechtsextremismus, Rassismus und Klimawandel zusammenhängen“ (S. 16). Dann: Rechtspopulistische Deutungen sind Schwerpunkt des Buches (S. 30). Es ist die Rede von „bürgerlichen Rassist:innen“ (S. 25) oder „rechten Verschwörungsideolog:innen“ (S. 99). Rechte sind reaktionär, frauenfeindlich, rassistisch, nationalistisch und wissenschaftsfeindlich (S. 64). Es bleibt der Fantasie überlassen, ob man hierzu auch CDU (S. 170) und FDP (S. 106) zählt, die Gastauftritte haben. In den Kapiteln 9 und 10 ist dann von „Antiökolog:innen“ (S. 206) die Rede, wobei nicht klar wird, ob diese deshalb rechts sind, weil sie den anthropogenen Klimawandel in Frage stellen. Nur im Glossar (und einer Fußnote) findet sich der (wichtige) Hinweis, dass der Begriff „radikale Rechte“ als Sammelbegriff fungiert für „antiliberale, populistische und extreme Akteur:innen, Organisationen und Bewegungen, die für Ungleichheit eintreten“ (S. 286). Diese Begriffsklärung folgt dem Prinzip der maximalen Offenheit. Sind Rechte, die keine extremistischen Tendenzen aufweisen, Teil der radikalen Rechten? Wie verhält es sich mit Rechtslibertären, die etwa hinsichtlich Nationalismus, Nativismus oder Autoritarismus andere Weltvorstellungen haben als Rechtsextreme? Und, auch innerhalb der (konservativen) Linken gibt es rassistische Ressentiments. Zuweilen entsteht der Eindruck, alles, was rechts schmeckt, wird in einen Topf geworfen und zu einer braunen Suppe verrührt. Streckenweise ist unklar, ob es sich ausschließlich um rechte Akteur*innen im engeren Sinne handelt (wie Weidel, Trump, Putin) oder um ‚einfache‘ Bürger*innen oder das Elektorat von „Rechtsaußenparteien“ (S. 147). Emsig illustrieren die Autoren ihre Aussagen mit AfD-Zitaten. Zwar heißt es, dass die Leugnung des Klimawandels „nicht beim AfD-Parteibuch endet“ (S. 171) und sich „Klima-Bremser“ (S. 171) breiter aufstellen. Wenn aber von „Solidaritätsverweiger:innen, Querulant:innen, Rechtsradikalen, Libertären und Querdenker:innen“ (S. 232) die Rede ist, scheinen die Autoren nicht mehr nur an Parteifunktionär*innen oder Amtsträger*innen zu denken. Dann aber trägt die Definition der radikalen Rechten kaum, da z.B. das AfD-Elektorat keineswegs ungleichheitsaverser ist als das der FDP oder CDU (Baarck et al. 2022, Candeias 2023, Eisnecker et al. 2018).
Inhaltlich setzen sich die Autoren mit konkreten (und rechts gelabelten) Einwänden der Rechten nicht auseinander, da sich diese nur „aus Weißsein, Reichsein und Mannsein ergeben“ (S. 24). Wenn die Autoren rechte Kritik an Klimaschutzmaßnahmen als „berechtigte Kritik“ goutieren (S. 45), wünscht man sich einen ‚Maßstab berechtigter Kritik‘ zur Hand. Für die Story ‚Rechte vs. Nicht-Rechte‘ ist das förderlich; für eine differenzierte Auseinandersetzung und das Finden demokratischer Lösungen – wofür die Autoren werben – weniger. Anstatt konkret zu werden, hält man es allgemein: „Nur Solidarität gegen Klimarassismus, -klassismus und Gender-Ungleichheiten kann eine echte soziale und ökologische Wende herbeiführen“ (S. 239). Fragen, wie man z. B. mit Klimamigration (S. 24) etwa hinsichtlich der Wohnungsnot umgehen soll, beim Wissen um die enorme CO2-Intensität des Bausektors, oder wie sich eingeübte aber extrem klimaschädliche Mobilitätsmodelle, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit (als Folge der Liberalisierung) hervorgebracht hat, überwunden werden sollen, bleiben offen.
- b) Schuld sind die Rechten!
Die Lektüre erweckt den Anschein, als trügen vor allem Rechte in ihrem Festbeißen am Status Quo Schuld am Klimaschlamassel und bremsten die dringend notwendigen Transformationen (Auswahl: S. 21, S. 51, S. 120). Der CO2-Fußabdruck steigt bekanntlich mit dem Einkommen (Chancel et al. 2022). Dementsprechend emittieren Nicht-Rechte, wie z. B. die Wählerschaft der Grünen, mehr klimaschädliche Gase als Rechte, wie die Wählerschaft der AfD, mit ihren deutlich geringeren mittleren Einkommen (Krause 2020, Lux 2022, Sachweh 2020, eigene Berechnungen: International Social Survey Programme (ISSP) 2022). Auch historisch kann man dem nur widersprechen. Es ist zuallererst nicht-rechte Politik, die im fossilen Nachkriegskapitalismus (in bester sozialer Absicht) die Klimazerstörung massiv vorangetrieben hat. Massenkonsum (als erkämpfte materielle Partizipation) und die Entstehung berechtigungsbewusster Mittelschichten sind Kehrseite der Klimakrise. Beispielsweise optieren alle Parteien im Kern für Green Growth: jetzt schnell umsteuern, damit (fast) alles so bleiben kann, wie bisher. Ja, die Autoren fürchten sich vor einer zukünftigen Mobilmachung. Die Leugnung des Klimawandels und rechte Abschottungspläne laufen auf eine „rassistische Vorherrschaft“ hinaus (S. 24). Reminder dieser Art sind allerdings spärlich gesät. Das Hauptanliegen der Autoren; künftige Gefahrenpotenziale aufzuzeigen, dürfte inmitten vielzähliger und wortstarker Belege rechter Antiökolog*innen verschütt gehen. Vielmehr entsteht der Eindruck: Mangelnder Klimaschutz? Das ist die Schuld der Rechten! Bedarf es einer moralisch ‚guten‘ Motivation, um als Klimafreund*in geadelt oder als Klimafeind*in getadelt zu werden? An einigen (aber zu wenigen) Stellen streuen die Autoren ein: Alle politischen Kräfte, die den Klimawandel „nicht bekämpfen, sind in Wahrheit freiheitsfeindlich“ (S. 100). Oder: Das Programm der Grünen reicht nicht aus, um die Klimaziele zu erreichen (S. 239). Hier hätten Widersprüche auch innerhalb der Nicht-Rechten mutiger aufgezeigt werden können, um das Schwarz-Weiß-Bild mit Grautönen zu bereichern. So bleibt es, wie Blühdorn (2020: 18, Hervorhebung im Original) es mit der „tiefgreifenden Komplizenschaft“ wendet, ein Fingerzeig auf ‚die da‘ in der rechten Schmuddelecke, „vielleicht im selben Sinne Externalisierungsstrategie“ (Blühdorn 2020: 19).
- c) Schuld sind die Männer!
Die Diskriminierungsdimensionen Rasse und Klasse arbeiten die Autoren plausibel auf. Die Geschlechterdimension erzeugt dagegen Stirnrunzeln, was u.a. daran liegt, dass zwischen globaler und lokaler Perspektive geswitcht wird und das Bild entsteht, Frauen seien ausschließlich Opfer des Klimawandels, Männer die Täter, denn: „Der Klimawandel ist männlich“ (S. 81). Ja, Frauen sind etwas klimabesorgter als Männer. Im Jahr 2020 gaben knapp 44 Prozent der Frauen und 37 Prozent der Männer an, sich große Sorgen hinsichtlich der Klimawandelfolgen zu machen (eigene Berechnungen: Sozioökonomisches Panel 2022). Aber: Zwischen anderen ungleichheitsrelevanten Merkmalen (z. B. Alter, Bildungsstand oder Einkommen) sind die Unterschiede deutlich größer. Ja; etwas mehr Frauen (50 Prozent) sagen, dass sie höhere Preise für den Umweltschutz zahlen würden (Männer: 45 Prozent, eigene Berechnungen: ISSP 2022), wobei Frauen keineswegs einheitliche Ansichten teilen. Fragt man nach der Akzeptanz höherer Steuern, schmelzen die Geschlechterunterschiede auf zwei Prozentpunkte ab (26 Prozent vs. 24 Prozent). Zudem ist es dem Klima egal, ob Frauen theoretisch etwas zahlungsbereiter sind als Männer. Praktisch haben fast zwei Millionen Frauen bei der letzten Bundestagswahl der AfD ihre Stimme gegeben (Bundeswahlleiter 2022). Es gibt Bereiche, in denen sich Frauen klimaschädlicher verhalten als Männer: Die relativen Konsumausgaben alleinstehender Frauen liegen z. B. in den Bereichen Bekleidung, Inneneinrichtung, Energie oder Haustierhaltung über dem Niveau alleinlebender Männer (Statistisches Bundesamt 2021). Die Losung; „Männer sollten sich in Hinblick auf das Klimaverhalten (und manch anderes) Frauen zum Vorbild nehmen“ (S. 82) überzeugt nicht. Gemeinsam leben Frauen und Männer in großzügigen Einfamilienhäusern und fliegen im Sommerurlaub nach Spanien. Begreift man die Klimakrise als systemische Krise, erscheint die gegenseitige Aufrechnung geschlechtsspezifischen (Konsum-)Verhaltens wahrlich müßig und schafft neue klimaschädliche Entlastungsräume, da doch bitte erstmal die Männer ‚ranmüssen‘, was aus den Mündern der männlichen Autoren seltsam paternalistisch klingt. Weiterhin ist fragwürdig, weshalb der Klimawandel vor allem Frauenberufe erschweren sollte (S. 81). Was ist mit Bauarbeitern oder der männlich dominierten Dienstbotenklasse, die im Accord Pizza und Pakete in feinstaubgetränkten Innenstädten ausliefern muss? Intersektionale Betrachtungen hätten hier inhaltlich produktiver eingesetzt werden können (etwa ungleiche Wohnumweltbelastungen einkommensarmer migrantischer Männer in Metropolrandregionen).
Resümee
Matthias Quent, Christoph Richter und Axel Salheiser sensibilisieren mit großem Engagement in ihrem Buch „Klimarassismus“ für die Gefahren von rechts, da sie in der Klimaabwehr ein Thema identifizieren, das unterschiedliche rechte Strömungen (ähnlich wie die Migrationsfrage) vereint und über den rechten Rand hinaus schwappen und Teile der Gesamtbevölkerung ergreifen kann. Dem setzen die Autoren eine optimistische Deutung entgegen, dass wirksamer Klimaschutz möglich ist und der Klimawandel auch als Chance für mehr globale Gerechtigkeit gesehen werden kann. So beherzt das Buch geschrieben ist und so wichtig die Beobachtungen sind, es hätte der Leserschaft mehr Widerspruch zutrauen dürfen. Stattdessen wird eine geschmeidige Geschichte der rechten Klimagefahr erzählt, womit man dem ökologischen und sozialen Klima nichts Gutes tut: Alle Nicht-Rechten können sich nun mit der linken Hand auf die Schulter klopfen, da man die abstrusen Positionen der Weidels und Trumps dieser Welt ablehnt, während man in der rechten Hand den klimaschädlichen Coffee to Go hält. Das Buch regt die dringend notwendige Debatte an, wie sich Fragen des Klimawandels außerhalb der politischen Kategorien links und rechts konstruktiv verhandeln lassen. Während die Rechten im urbanen linksgrünen Milieu den Feind sehen, erweckt das Buch den Eindruck, der Feind stehe rechts von ‚uns‘. So werden Feindbilder gepflegt, während die Temperaturen steigen und steigen.
Auspurg, K./Schneck, A./Hinz, T. (2019): Closed doors everywhere? A meta-analysis of field experiments on ethnic discrimination in rental housing markets. Journal of Ethnic and Migration Studies, 45. Jg., S. 95–114.
Baarck, J./Dolls, M./Unzicker, K./Windsteiger, L. (2022) Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Blühdorn, I. (2020): Haben wir es gewollt? Vorüberlegung. In: Blühdorn, I./Butzlaff, F./ Deflorian, M./Hausknost, D./Mock, M. (Hrsg.): Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet.Bielefeld: transcript, S. 13-21.
Bundeswahlleiter (2022): Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021. Wahlbeteiligung und Stimmabgabe nach Geschlecht und Altersgruppen. Wiesbaden.
Candeias, M. (2023): Große Mehrheit für Umverteilung. Repräsentative Umfrage zeigt hohe Zustimmung zu Vermögens- und Übergewinnsteuer. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Chancel, L./Piketty, T./Saez, E./Zucman, G. (2022): World Inequality Report 2022. Paris: World Inequality Lab.
Deutscher Wetterdienst (2023): Wetter- und Klimalexikon. Tropennacht. Online: https://www.dwd.de/DE/service/lexikon/Functions/glossar.html?nn=103346&lv2=102672&lv3=102802 [Zugriff: 20.05.2023].
Dilling, M./Schließler, C./Hellweg, N./Brähler, E./Decker, O. (2022): Wer sind die Verschwörungsgläubigen? Facetten der Verschwörungsmentalität in Deutschland. In: Decker, O./Kiess, J./Heller, A./Brähler, E. (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Leipziger Autoritarismus Studie 2022. Gießen: Psychosozial, S. 209-244.
Eisnecker, P./Adriaans, J./Liebig, S. (2018): Was macht Gerechtigkeit aus? Deutsche WählerInnen befürworten über Parteigrenzen hinweg das Leistungs- und das Bedarfsprinzip. DIW Aktuell 17. Berlin.
El-Mafaalani, A. (2021): Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand, Bd. 1796. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Foroutan, N. (2020): Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft. In: Politik und Zeitgeschichte, 70. Jg., S. 12–18.
Ghekiere, A./Verhaeghe, P.-P./Baert, S./Derous, E./Schelfhout, S. (2022): Introducing a vignette experiment to study mechanisms of ethnic discrimination on the housing market. PloS one 17.
International Social Survey Programme (2022): Environment IV – ISSP 2020. ZA7650 Data file Version 1.0.0. Köln: GESIS.
Kachelmannwetter (2023) Messwerte & Klimadaten im Archiv ab dem Jahr 1871. Temperaturen am 31.12.2022. Online: https://kachelmannwetter.com/de/messwerte [Zugriff: 20.05.2023].
Krause, W. (2020): Strukturiert sozioökonomische Ungleichheit die Legitimitätswahrnehmungen und Wahlentscheidungen der Bürgerinnen? In: Kneip, S./Merkel, W./Weßels, B. (hrsg.): Legitimitätsprobleme. Zur Lage der Demokratie in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS, S. 125-152.
Lux, T. (2022): Die AfD-Wahlabsicht aus ungleichheitssoziologischer Perspektive. In: Soziale Welt, 73. Jg. S. 67–104.
Reusswig, F. A./Schleer, C. (2021): Auswirkungen von Klimaschutzmaßnahmen auf Akteursgruppen im Hinblick auf Veto- und Aneignungspositionen. Literaturstudie zur gesellschaftlichen Resonanzfähigkeit von Klimapolitik. Berlin: Wissenschaftsplattform Klimaschutz.
Sachweh, P. (2020): Social integration and right-wing populist voting in Germany. In: Analyse & Kritik, 42. Jg., S. 369–398.
Scherr, A. (2020): Diskriminierung und Diskriminierungskritik: eine problemsoziologische Analyse. In: Soziale Probleme, 31. Jg., S. 83–102.
Sommer, B./Schad, M./Kadelke, P./Humpert, F./Möstl, C. (2022): Rechtspopulismus vs. Klimaschutz? Positionen, Einstellungen, Erklärungsansätze. München: Oekom.
Sozioökonomisches Panel (2022): Version 37. Daten der Jahre 1984 – 2020. SOEP-Core v37, EU-Edition. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.
Statistisches Bundesamt (2021): Konsumausgaben privater Haushalte. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Wiesbaden.
Umweltbundesamt (2021): Umwelt, Gesundheit und soziale Lage. https://www.umweltbundesamt.de/daten/umwelt-gesundheit/umwelt-gesundheit-soziale-lage#sozial-und-gesundheitlich-benachteiligt [Zugriff: 20.05.2023].
Philipp Kadelke arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt sozialer Ungleichheiten an der Technischen Universität Dortmund. Er befasst sich in diesem Kontext mit Fragen des Klimawandels und des Wohnens. In seiner Dissertation untersucht er, inwiefern der Wohneigentumsstatus dazu beiträgt, soziale Ungleichheiten zu reproduzieren.
Beitrag als PDF/DOI: 10.17879/sun-2023-5106
Tagungsbericht Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie 2022
Ein Bericht zur interdisziplinären Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie 2022
TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem? Epistemologien_Agencies_Institutionen_politische Ökonomie & [_]
Vom 25. bis 26. November 2022 fand in Oldenburg die 19. Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie statt. An zwei Tagen versammelten sich rund 35 Interessierte, um unter dem Titel “TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem?” Forschungsarbeiten vorzustellen und zu diskutieren, Anregungen zu sammeln und ins Gespräch zu kommen. In diesem Beitrag wollen wir, ein Teil des Organisationsteams, von der Veranstaltung berichten und die Tagungskonzeption, unsere Motivation und Erfahrung reflektieren. Dabei möchten wir das entstandene Mosaik an Ideen und Konzepten der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung aus Sicht vieler (Nachwuchs-) Wissenschaftler*innen teilen.
Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie
Die Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie (NGU) ist ein 2002 gegründetes, loses Netzwerk von Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit den Themen Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit beschäftigen. Jedes Jahr wird von einem wechselnden Organisationsteam eine Tagung ausgerichtet, die sich in den letzten Jahren thematisch der sozial-ökologischen Transformation widmete und sich kritisch mit Herrschaftsverhältnissen, Ungleichheiten und Fragen der Solidarität auseinandersetze.
Grundsätzliches Ziel der NGU-Tagung ist es, einen Rahmen bereitzustellen, der es Nachwuchswissenschaftler*innen ermöglicht, über aktuelle und im Entstehungsprozess befindliche Forschungsarbeiten zu diskutieren, in gegenseitiger Anregung neue Impulse zu schaffen und sich über Berufsperspektiven und universitären Alltag sowie damit verbundene Herausforderungen als wissenschaftlicher Nachwuchs auszutauschen. Damit übernimmt diese Veranstaltung eine einzigartige vermittelnde Funktion innerhalb der (umwelt-)soziologischen Nachwuchscommunity und darüber hinaus.
Das Organisationsteam im Jahr 2022 setzte sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Universitäten und Institutionen zusammen: Nadine Gerner (Universität Münster), Lina Hansen, Marvin Neubauer (Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ, Leipzig), Leonie Reuter (Freie Universität Berlin), Ronja Schröder (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg), Lea Zentgraf (Freie Universität Berlin). Die Gruppe hat sich über einen Aufruf im NGU-Netzwerk zusammengefunden und zeichnet sich durch verschiedene fachliche Hintergründe und Schwerpunkte aus. Über die unterschiedlichen thematisch-disziplinären Ausrichtungen hinweg bestand eines der verbindenden Elemente im gemeinsamen Interesse an sozial-ökologischen Krisendiagnosen, damit zusammenhängenden Bewältigungsstrategien und Transformationsidealen und den Feldern ihrer gesellschaftspolitischen Aushandlung.
Anfänge #Ideen #Fragen
Herausforderung und Chance zugleich war die virtuelle Zusammenarbeit von verschiedenen Standorten aus. Der Planungsprozess fand bis auf ein Präsenzwochenende in Berlin zur Erarbeitung des Call for Participation digital statt. Die Organisation der Tagung begann im April 2022 und wurde – von der räumlichen Planung, über die Beantragung von Finanzierung[1] und die Einladung von Keynote-Speaker*innen bis hin zur Kommunikation mit Teilnehmenden – über mehrere Monate intensiv vorangetrieben. Regelmäßige Treffen per Videocall für inhaltliche Diskussionen, Bürokratiebewältigung und informellen Austausch fanden alle zwei Wochen statt. Zentral war bei der Tagungskonzeption längst nicht nur die inhaltliche Themensetzung, sondern immer auch die Frage, durch welche Formate, Abläufe und Impulse wir einen guten Rahmen bereitstellen könnten. Wie soll eine Tagung aussehen? Was soll sie leisten und welche akademischen Konventionen wollen wir explizit nicht reproduzieren? Wie lässt sich ein möglichst barrierearmer Zugang ermöglichen? Was bedeutet es, eine Tagung für den Nachwuchs zu organisieren und wer genau gehört dem Nachwuchs überhaupt an? Inwiefern kann eine Tagung selbst transformativ sein?
Call for Participation
Bei der Entwicklung des Calls wurde viel diskutiert und ausgehandelt. Eine interdisziplinäre Gruppe stand vor dem Problem des gegenseitigen Verstehens. Eine Lösung fanden wir durch eine offene Form der Textproduktion und Vielfältigkeit von Theorien und Konzepten. Wiederkehrender Reibungspunkt war die eigene Positionierung im aktivistischen oder wissenschaftlichen Feld als politisch. Wie sehr sollten wir unsere eigene Situiertheit explizit machen? Mit einer Leerstelle [ _ ] im Titel des Calls wollten wir dieser Ungeklärtheit Rechnung tragen und verdeutlichen, dass die Tagung auch als Plattform für weitere, bisher nicht mitbedachte Perspektiven und Problematisierungen fungiert.
Ausgangspunkt unserer inhaltlichen Überlegungen zum Call war das Verständnis der sozial-ökologischen Transformation als ein konfliktgeladener, sozialer Prozess, der von vielen verschiedenen Akteur*innen, Bewegungen und Institutionen beeinflusst wird, in dem unterschiedliche Episteme, Narrative und Wissensordnungen in Konflikt, Verhandlung und Solidarität zueinander stehen und in dem divergierende Interessen zum Tragen kommen. Hier setzte die 19. Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie dekonstruierend an und stellte die Fragen nach dem „für wen?“, „durch wen?“ und „mit wem?“: Durch welche konkreten Akteur*innen wird die Transformation auf welche Weise vorangetrieben, verhandelt, gehemmt, gelenkt und erstritten? Wer profitiert, wer verliert und wer bleibt unsichtbar?
Mit Blick auf unterschiedliche Akteur*innen, Interessen und Betroffenheit(en) (Dörre et al. 2019, Arruza et al. 2019) stellten wir im Rahmen der Nachwuchstagung das Konzept des einen universellen Transformationspfades in Frage. Zentrale Anknüpfungspunkte waren pluriverse Perspektiven (Escobar 2018, 2020, Harding 2018), Kritik an hegemonialen Transformationsdiskursen (Shiva 1991, Harcourt 2015) sowie (Nord-Süd-)Solidarität und Dekolonisierung (Lugones 2010). Dabei orientierten wir uns an den theoretischen Frameworks um Agencies, Episteme, Institutionen und politischer Ökonomie.
Bei der Frage, wer die Transformation als Kooperationspartner*innen gestaltet oder lediglich in der Tradition kolonialer Ausbeutungsmuster mitgedacht wird, geht es um Begriffe der Nord-Süd-Solidarität und Dekolonisierung (Mohanty 2003, Lugones 2010). Wer muss solidarisch sein und wie kann Solidarität gestaltet werden, sodass es nicht eine Transformation für einige wenige, sondern für alle ist und wird? Wie öffnen wir den Raum für plurale Epistemologien und Agencies (Escobar 2018, 2020, Harding 2018)? Welche Rolle spielen Machtverhältnisse in solchen Koordinierungs- und Aushandlungsprozessen? Wie denken wir bestehende Herrschaftsverhältnisse sowie Ungleichheitsstrukturen in Transformationsprozessen mit?
Der Call for Participation wurde Ende August über zahlreiche Verteiler verschickt, die Bewerbungsfrist war der 15. September. Es gab großes Interesse und mehr Bewerber:innen als Vortragsslots. Die Einladungen und das Programm wurden Ende Oktober veröffentlicht.
Die Tagung #Erster Tag
Die Tagung fand im Bibliothekssaal der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit circa 35 Personen in Präsenz statt. Das Programm setzte sich aus fünf thematischen Sessions zusammen, die wiederum jeweils aus zwei Inputs von Nachwuchswissenschaftler*innen und einer anschließenden vortragsübergreifenden Fragerunde und Diskussion bestanden. Das Thema der Konferenz wurde außerdem von zwei Keynotes verhandelt und um deren aktivistische, feministische und dekoloniale Perspektiven erweitert: Dr. Manuela Zechner – u.a. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Jena im BMBF-Forschungsprojekt „Movements of Europe. Transnationale soziale Bewegungen und Bruchlinien der Solidarität“ und Ashish Kothari – u.a. Soziologe und Co-Gründer von Kalpavriksh. Moderiert wurden die Panels und Keynotes durch die Organisator:innen der Tagung. Neben den genannten inhaltlichen Sitzungen gab es auch ein informelles Rahmenprogramm, das dem offenen Austausch und dem Netzwerken der Nachwuchswissenschaftler*innen diente.
Die Tagung startete mit einem optionalen Auftakt am Freitagmorgen. Manuel Wagner und Pauline Lürig leiteten einen Workshop zu Kollaborativem Denken & Schreiben. Dabei wurde Transformation als more-than-human Care-Beziehungen mit Boden nicht nur diskutiert, sondern die Teilnehmenden konnten mit Collagematerial und Kompost diese Beziehungen auch ganz praktisch erleben. Das Workshopformat ermöglichte einen alternativen theoretisch-praktischen Einstieg in die Tagung, was von den Teilnehmenden begeistert angenommen wurde.
Nach einer Begrüßung und ersten Kennenlernrunde wurde durch eine moderierte Diskussion und einige Reflexionsübungen ein gemeinsamer Rahmen für die Tagung gesetzt. Anhand von Wortwolken ließen sich die Interessensgebiete der Teilnehmenden sowie erste Perspektiven auf den Transformationsbegriffs darstellen. Außerdem wurde anhand von drei Leitfragen die übergeordnete Frage diskutiert: Wie schaffen wir es, einen Raum für Wissenschaft so zu gestalten, wie wir ihn uns wünschen? Vor dem ersten Panel fand eine kurze Feedbackrunde statt, um Wünsche, Ideen und Vorschläge an einer Pinnwand sichtbar zu machen und über die Tagung hinweg immer wieder zu nutzen und zu ergänzen.
#Session 1: Change Agents in der Transformation: Konzeptionelle Überlegungen zu Agency von Unten und Außen. Die erste Session begann Niklas Stoll (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) mit seinem Vortrag „Transformation in Bewegung: Soziale Bewegungen als Treiber der sozialökologischen Transformation“. Dabei bestand der Ansatz vor allem darin, die Klimabewegung konzeptionell greifbar zu machen, Strukturen und Dynamiken zu abstrahieren, anhand bestimmter Kriterien (z.B. Grad der Institutionalisierung oder Radikalität) zu systematisieren und schließlich auch zu kartieren. Nach einer kurzen Fragerunde ging es weiter mit dem Vortrag „Outsiders‘ Agency to Change the System – Überlegungen zu einer neuen Perspektive auf Akteur:innen des Wandels im Kontext von Nachhaltigskeitstransformationen“ von Daniel Peter (Technische Universität Dresden). Dabei wurde argumentiert, dass sich ‘change agents’ immer durch eine epistemische und/oder institutionelle Differenz zum Status Quo auszeichnen und es sich deshalb lohnt, das Verhältnis von ‚Outsidern‘ und ‚Insidern‘ systematisch auf ihre konstitutiven Merkmale und Wechselwirkungen hin zu untersuchen. Insgesamt bot die Session somit erste theoretisch-konzeptionelle Impulse für die weitere Auseinandersetzung mit Akteur*innen der Transformation. Insbesondere die Rolle der Klimabewegung als wesentliche Transformationsakteurin wurde im Verlauf der Tagung und über verschiedene Vorträge hinweg immer wieder stark gemacht und auf ihre transformativen Potenziale hin befragt. Inwiefern können Bewegungsinitiativen vorherrschende Normen, Diskurse, Subjektivitäten, Praktiken und Verfahren, Institutionen und materielle Infrastrukturen verändern und damit eine transformative Wirkung entfalten?
#Session 2: Agri-Food-Systeme in der Transformation – Part I: Von Akteur*innen, Praktiken & Institutionen… Dieser erste Teil von zwei Sessions zu Agri-Food-Systems fokussierte auf Akteur*innen und Praktiken. Dazu passend begann die Session mit einem Beitrag zu „Actors of sustainable food consumption? A Comparison of Individual and Institutional Responsibilities in Urban Food Acquisition” von Mabel Killinger (Leibniz-Institut für Ökologische Raumentwicklung Dresden). Franziska Ohde (Goethe Universität Frankfurt) stellte im Anschluss ihre Forschung “Starting a Revolution in the Garden? Praxeological considerations on permaculture” vor. Beide Referentinnen beantworteten zahlreiche Fragen zur Anwendung der Resonanztheorie auf den Forschungsbereich der (nachhaltigen) Ernährung, dem Konzept der Mind-Action-Opportunity-Gap, den Grundlagen der Permakultur: Sorge für die Erde, Sorge für die Menschen und fair-share sowie Natur-Sorge-Beziehungen und (Re)Produktion. Die Diskussion zeigte ebenso Unterschiede wie auch Verbindungen zwischen alternativen Konsum- und Produktionspraktiken in Deutschland und Ruanda auf. Insgesamt spielte Forschung zum Agrar- und Ernährungssystem eine große Rolle bei der Tagung; immer wieder wurden Agri-food-systeme dabei kritisch auf ihre Nachhaltigkeit und Umwelt- sowie kulturell-sozialen Impakt hinterfragt aber auch als Räume für sozio-ökologische Transformation identifiziert und untersucht.
#Session 3: Agri-Food-Systeme in der Transformation – Part II: …bis zum strukturellen Wandel? Den Anfang der dritten Session machte Julia Tschersich (Utrecht University), die eine gemeinsame Forschungsarbeit mit Stefanie Sievers-Glotzbach (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) zu „The transformative potential of Seed Commons – Applying the social-ecological transformation framework to agri-food systems“ vorstellte. Danach ging es weiter mit Elke Verhaeghes (Ghent University) Vortrag zu „Transformations in the EU anti-deforestation policies: The more things change the more they stay the same”. In der anschließenden Diskussion ging es um Fragen nach adaptierten lokalen Lösungen und deren Einfluss auf die sozio-ökologische Transformation und inter- und intragenerationale Gerechtigkeit. Beide Vorträge hatten einen Analyserahmen eingeführt, anhand derer sich Transformation von anderen Formen des inkrementellen Wandels abgrenzen lässt, und transformative Prozesse in wesentlichen Phasen, Wendepunkten, und ihrer Beeinflussung durch hemmende und fördernde Faktoren nachvollzogen werden können. Zur Diskussion standen dann verschiedene Anwendungsmöglichkeiten dieser Frameworks, zum Beispiel um das transformative Potenzial von zivilgesellschaftlichen Nischenpraktiken (Seed Commoning) bzw. politischen Regulierungen (EU anti-deforestation policies) zu verstehen. Außerdem wurde über Wissenshierarchien und die fehlende Anerkennung von Degrowth, Postgrowth, verkörpertem, indigenem und more-than-human Wissen debattiert.
Der erste Tag der 19. NGU-Tagung endete mit einer inspirierenden Keynote zum Thema „Earthcare struggles, drawing power from vulnerability // Engaged research practice in/with/as movements“ von Dr. Manuela Zechner, die als Activist-Scholar über verschiedene Konzepte und Logiken von Care sprach: taking care of, caring about, caring with, care-receiving, caregiving. Diese konzeptionelle Rahmung kontextualisierte sie anschließend mit Beispielen aus ihrer partizipativen aktivistische Co-Forschung aus Deutschland, Spanien und weiteren europäischen Ländern. Dabei ging es unter anderem um Fragen nach Momenten der Vulnerabilität, der Kraft der Reproduktion, Beziehungen in einer more-than-human world, Enteignung und Commons, sowie die Bedeutung des Care-Konzepts für den gesellschaftlichen Umgang mit der Klimakrise. Ein zentraler Impuls, der von Manuela Zechners Keynote ausging und sich anschließend weiter durch die Tagung zog, richtete sich auf das Prinzip kollaborativer Forschung und den Anspruch, nicht nur über Bewegungsakteur:innen zu forschen, sondern mit ihnen. Die Diskussion berührte damit auch die normativen Dimensionen der Transformationsforschung.
Die Tagung #Zweiter Tag
Der Samstag startete mit einer Keynote von Ashish Kothari. Der Austausch begann mit einigen Fragen zu Kotharis Selbstverständnis als Aktivist und Forscher, prägenden Momenten seiner Karriere, sowie den größten Forschungslücken in der aktuellen Transformationsforschung. Zunächst stellte Kothari sein Weltverständnis des Pluriversums dar: Anhand basisdemokratischer Beispiele im Kontext Indien und anderen transnationalen Graswurzel Bewegungen verdeutlichte er den kontextspezifischen, aber dennoch verwobene Widerstand gegen das Universum, welches auf Unterdrückung und kapitalistischer Ausbeutung beruht. Daran schloss er die Notwendigkeit von Nord-Süd Allianzen als politische Forderung an. Als Schwerpunkt betonte der Activist-Researcher die Rolle der Frauen als Vorreiterin und stellte ihre Stimmen und Praktiken des Widerstands heraus.
#Session 4: Ländliche Zivilgesellschaft in Transformation: Vom Objekt zum Subjekt des Wandels? In dieser Session ging es anhand von zwei Fallbeispielen aus Finnland und Deutschland um zivilgesellschaftliche Akteur*innen in konkreten Transformationsprojekten. Jana Holz (Universität Jena) teilte ihre Forschungserfahrungen zu „Sozial-ökologische Transformationen und Konflikte ländlicher Bioökonomien – Diskussion anhand einer Fallstudie aus Finnland“. Nach einer kurzen Fragerunde ging es weiter mit dem Vortrag „Empowerment zivilgesellschaftlicher Organisationen im Strukturwandel: eine Fallstudie der Lausitz“ von Nora Stognief (Europa-Universität Flensburg). Dabei wurde u.a. erörtert, wie sich Machtformen klassifizieren und in Hinblick auf Durchlässigkeiten, Destabilisierung und Neuordnung untersuchen lassen. Inwiefern sind spezifische Akteurskonstellationen, Strategien oder Policies in der Lage, bestehende Machtverhältnisse aus dem Gleichgewicht zu bringen und damit möglicherweise eine Voraussetzung für Transformation zu schaffen? Welche Rolle spielt dabei das Empowerment von zivilgesellschaftlichen Organisationen? In der Diskussion ging es um Konflikte lokaler Akteur:innen und deren Abhängigkeit(en) von der Forst- und Braunkohleindustrie, die Betroffenheit vor allem ländlicher Gemeinschaften durch Transformationsprojekte, und die Frage, wie partizipative Transformation lokal funktionieren kann. Außerdem wurde versteckte Umweltzerstörung durch vermeintlich grüne Folgeprojekte thematisiert und kritisch hinterfragt, inwiefern die Bioökonomie Teil der sozio-ökologischen Transformation sein kann.
#Session 5: Wissen in der Transformation: Zur Rolle von Wissenschaft und Utopie Zunächst ging es in Rubén Kaisers (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Vortrag um „Listen to the Science? – Die Klimabewegung zwischen system-change und positivistischem Wissenschaftsverständnis“. Unter dem Titel „From Recipient to Agent – Knowledge Sharing and Co-Generation as Tools to Bridge the Gap between Westernized and Localized forms of Science in Agroecology“ stellte anschließend Linda Koch (Universität Würzburg) die Ergebnisse und Erfahrungen ihrer Masterarbeits-Forschung vor. In beiden Vorträgen wurde die Rolle von Wissen in der Transformation thematisiert, sowohl in Form von wissenschaftlichem Wissen als auch in Form praktischen Erfahrungswissen. Welche Formen von Wissen fließt in Transformation und in Transformationsforschung ein? Inwiefern gilt es die gängige Trennung und häufig damit einhergehende Hierarchisierung von wissenschaftlichem Wissen einerseits und lokalem, situiertem, traditionellem Wissen anderseits zu überdenken bzw. wie lassen sich verschiedene Wissensformen für eine Transformationen praktisch zusammenbringen lassen? Beide Vortragenden stellten außerdem mögliche Konflikte und Herausforderungen des wissenschaftlichen Arbeitens vor; von der Finanzierung, über methodische Fragen bis hin zu moralisch/ethischen Aspekten der empirischen Forschung. In der gemeinsamen Diskussion wurden diesbezüglich immer wieder Rückbezüge zu vorherigen Debatten der Tagung deutlich, insbesondere zu den Keynotes von Manuela Zechner und Ashish Kothari, und dem Plädoyer für kollaboratives und transformatives Forschen.
Um gemeinsam einen Abschluss zu finden, waren alle Teilnehmenden zu einer Reflexion über die Fragen eingeladen: (Wie) Haben wir es geschafft, einen Raum für Wissenschaft so zu gestalten, wie wir es uns wünschen? und Was nehmen wir für zukünftige Tagungsorganisitionen mit? Den Teilnehmenden bot sich hier noch einmal die Gelegenheit, Feedback zur Programmgestaltung sowie zur Umsetzung zu geben und Wünsche und Ideen für zukünftige NGU-Tagungen zu sammeln. Besonders stark wurde dabei immer wieder der Bedarf an Vernetzungsmöglichkeiten auf Tagungen betont – sowohl in Form von ausreichend freier Zeit vor und nach den inhaltlichen Panels, als auch in stärker organisierter Form, beispielsweise über ein Board mit persönlichen Interessenssteckbriefen oder forschungsbezogenen Gesuchen.
TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem?
Die 19. NGU-Tagung öffnete einen Raum für soziologische Reflexion und wichtige inhaltliche Verzweigungen verschiedener Themen und Perspektiven auf die sozio-ökologische Transformation. Systemisches Denken und die Multidimensionalität der Transformation bildeten dabei eine gemeinsame Grundlage der Teilnehmer*innen.
Besonders Fragen nach einer gerechten Transformation aus intersektionaler Perspektive, die über die Kategorien von Klasse, Gender und Race hinausgeht und skalare Achsen wie urban-rural, lokal-global und verschiedene Temporalitäten von Transformation mitdenkt und gestaltet, spielten eine zentrale Rolle. Auch Wissensproduktion und -weitergabe und die gewaltsame Dominanz westlichen/akademischen Wissens wurde viel und kritisch diskutiert. Dabei zeichnete sich die Notwendigkeit ab, für eine gerechte Wissenstransformation pluriverse Perspektiven und mehr-als-Menschen-Perspektiven als Wissensformen praktisch und theoretisch zusammenzubringen. Konzepte, wie Aktivist-Research oder auch verkörpertes und erfahrungsbasiertes Wissen als Orte des Widerstands wurden vor diesem Hintergrund als Praktiken der gelebten sozio-ökologischen Transformation besprochen.
Lokale und situierte Praktiken der Transformation, wie beispielsweise Seed Commoning, Permakultur, kritische Policy und Care Practices, die sich gleichzeitig auch in transnationalen Netzwerken weiterentwickeln und sich dabei auf globalen Skalen entfalten, gibt es bereits viele und diverse – das haben die Beispiele aus den Vorträgen verdeutlicht. Ebenso wurde gezeigt, wie soziale Bewegungen durch ihre alternativen Diskurse, Verfahren, und Materialitäten als Akteur:innen des Wandels und des Widerstands gegen hegemoniale, ausbeuterische Strukturen wirken: Sie leisten Pionierarbeit für eine faire und planetare Transformation.
Das transformative Potenzial von bottom-up Ansätzen beruht u.a. darauf, unter dem Motto „Alle an einen Tisch” verschiedene Perspektiven zusammenzubringen und Gerechtigkeit somit nicht nur als Ergebnis von Transformation anzusteuern, sondern – im Sinne von procedural justice – auch als Maßstab für ihren Prozess.
In vielen Diskussionen wurde der Transformationsbegriff nicht nur auf Natur/Umwelt und ökologische Nachhaltigkeit bezogen, sondern nahm auch soziale Aspekte und Ungleichheiten in den Blick. Die dabei analysierten Machtstrukturen, die unweigerlich in einem kapitalistischen System mit Transformation verbunden sind, müssen für viele Teilnehmenden hierarchisch und planetarisch verstanden und bekämpft werden. Dazu gehören auch neokoloniale und patriarchale Kontinuitäten, die den Nachhaltigkeits- und Transformationsbegriff oft vereinnahmen und verwässern. Ein kritisch besprochenes Beispiel war hier der Ansatz der Bioökonomie in seinen verschiedensten Umsetzungsformen. In anderen Debatten ging es auch immer wieder um inkrementelle Regulierungen; diese dürfen kein Pflaster für ein Problem sein – wie so häufig in verschiedenen (inter-)nationalen Umwelt- und Nachhaltigkeitsgremien zu beobachten. Stattdessen müssen strukturelle Veränderungen mit Blick auf eine gerechte und situierte Transformation die Grundlage für politische Maßnahmen und Gesetzgebung sein.
Insgesamt veranschaulichten die Vorträge und Diskussionen der Tagung sehr gut, dass es angesichts unterschiedlicher Akteur*innen, Interessen und Betroffenheit(en) den einen universellen Transformationspfad kaum geben kann. Zahlreiche Kräfte, die auf gesellschaftlichen Wandel einwirken, wurden während der Tagung anhand verschiedener Konzepte umrissen und durch Beispiele veranschaulicht – von sozialen Bewegungen und Außenseiter*innen als change agents, über zivilgesellschaftliche Nischenpraktiken und soziale Innovationen, verschiedene Wissensformen und Erzählungen, bis hin zu politischen Regulierungen und Programmen. Inwiefern diese Kräfte auf ihre Art dazu beitragen, den sozial-ökologischen Status-Quo gezielt oder unbewusst zu stabilisieren, zu reformieren oder zu transformieren, und inwieweit das auf gerechte Weise geschieht, wird die sozialwissenschaftlichen Forschung insgesamt und sicherlich auch die umweltsoziologischen Nachwuchscommunity weiter beschäftigen. Damit verliert auch die Ausgangsfrage der Tagung nicht an Relevanz: TRANSFORMATION für wen? // durch wen? // mit wem?
Referenzen & Lesetipps
- Arruzza, C./Bhattacharya, T./Fraser, N. (2019): Feminismus für die 99%: ein Manifest. Berlin: Matthes & Seitz.
- Dörre, K./Rosa, H./Becker, K./Bose, S./Seyd, B. (2019): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Wiesbaden: Springer VS.
- Escobar, A. (2018): Designs for the pluriverse: Radical interdependence, autonomy, and the making of worlds. Durham: Duke University Press.
- Escobar, A. (2020): Pluriversal politics: The real and the possible. Durham: Duke University Press.
- Harding, S. (2018): One Planet, Many Sciences. In: Oslender, U./Kashfi, E./Escobar, A./Harding, S./ Mignolo,W./Ouattara, I./Samnotra, M./Ahmad, Z./Mehta, V./Connell, R./Burchardt, H.-J./Boatca, M./Walsh, C./Ziai, A. [Hrsg.]: Constructing the Pluriverse. Durham: Duke University Press, S. 39-62.
- Shiva, V. (1991): The violence of the green revolution: third world agriculture, ecology and politics. London: Zed Books.
- Lugones, M. (2010): Toward a decolonial feminism. Hypatia, 25. Jg., Heft 4, S. 742-759.
[1] Kooperationen wurden mit dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Stiftung Leben & Umwelt / Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen, der Universitätsgesellschaft Oldenburg e.V., der Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung in Niedersachsen, und den Sektionen Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie, Wissenssoziologie und Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie geschlossen.
Lina Hansen (sie/ihr)
hat in Bremen, Groningen und Tiflis studiert und in Jena den soziologischen Master mit dem Schwerpunkt „Gesellschaftliche Transformation und Nachhaltigkeit“ erfolgreich abgeschlossen. Sie organisiert gerne transdisziplinäre feministische Konferenzen und arbeitet aktuell an einem Promotionsvorhaben zum Thema ökofeministische Solidarität. Sie liebt es gemeinschaftlich zu ackern und zum Kennenlernen einer anderen Person den Garten dieser zu besuchen.
Leonie Reuter (sie/ihr)
hat in Lüneburg, Bordeaux, Roskilde und Jena studiert und zuletzt ihren Master in Soziologie mit dem Schwerpunkt „Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation“ abgeschlossen. Seitdem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katastrophenforschungsstelle der FU Berlin im Bereich der sozialwissenschaftlichen Klimawandelforschung. Aktuell interessiert sie sich besonders für die sozialen Ursachen und Folgen des Klimawandels, die Vielfalt sozial-ökologischer Utopien und die Methode der Deutungsmusteranalyse.
Ronja Schröder (sie/ihr)
hat an der Universität Kassel Soziologie studiert. Sie ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Sozialtheorie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sie arbeitet an einem Promotionsvorhaben zum Thema Waldschäden und das Erleben sogenannter ökologischer Krisen. Aktuell interessiert Sie sich insbesondere für soziologische Sozial- und Gesellschaftstheorie, Atmosphärenforschung, Leibphänomenologie und qualitative Methoden der Sozialforschung.
ronja.schroeder@uni-oldernburg.de
Lea Loretta Zentgraf (sie/ihr)
hat in Heidelberg, São Paulo und Berlin studiert. Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der BMBF-Nachwuchsgruppe „Food for Justice: Power, Politics and Food Inequalities in a Bioeconomy“ am HCIAS an der Universität Heidelberg. Sie promoviert in Soziologie an der Freien Universität Berlin. In ihrer Forschungsprojekt untersucht sie soziale Bewegungen, die sich für eine sozio-ökologische Transformation einsetzen und für ein faires, gerechtes und nachhaltiges Ernährungssystem kämpfen. Besonders interessieren sie anti-koloniale, feministische* und Nachhaltigkeits-Debatten und das nicht nur rund ums Thema Essen.
lea.zentgraf@uni-heidelberg.de
Beitrag als PDF/DOI: 10.17879/sun-2023-5105
Nachhaltigkeit (Glossar Soziologie der Nachhaltigkeit)
Glossar Soziologie der Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit
Seit den 1990er Jahren ist Nachhaltigkeit ein prominenter Gegenstand der soziologischen Forschung. Aus soziologischer Perspektive erscheint Nachhaltigkeit als Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlung, Differenzierung und Veralltäglichung, der aus verschiedenen Perspektiven verstanden, erklärt und kritisiert werden kann.
Einleitung
Kaum ein anderer Begriff hat in den vergangenen Jahrzehnten derart an Prominenz gewonnen wie jener der Nachhaltigkeit. Dies stellt zunächst eine Schwierigkeit für die Begriffsbestimmung dar, denn mit seiner wachsenden Verbreitung geht auch eine Vielfältigkeit der Begriffsverwendungen einher. So lässt sich vom ursprünglichen Ausgangspunkt der nachhaltigen Ressourcenbewirtschaftung im 18. Jahrhundert über das vor allem im Laufe der 1990er Jahre verallgemeinerte Konzept der nachhaltigen Entwicklung hin zum gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurs eine zunehmende Mehrdeutigkeit und Diffusität des Gemeinten ausmachen. Abhängig vom jeweiligen Nachhaltigkeitsverständnis werden sehr unterschiedliche und zum Teil widerstreitende gesellschaftliche Phänomene als „nachhaltig“ bezeichnet. Die damit einhergehenden Schwierigkeiten lassen sich exemplarisch an den folgenden Fragen zeigen: Sind die Nutzung von Kernkraft und die Forcierung von elektrifiziertem Verkehr nachhaltig? Was führt Gegenwartsgesellschaften auf einen Nachhaltigkeitspfad? Populäre Antworten auf solche Fragen setzen zumeist auf die Durchsetzung bestimmter Technologien, die Summe veränderter Verhaltensmuster oder einen disruptiven Bruch mit Formen der Herrschaft über Mensch und Natur. Die Debatte um Nachhaltigkeitstransformation bzw. sozial-ökologische Transformation zeichnet sich folglich u.a. durch variierende Verständnisse von Nachhaltigkeit sowie Aushandlungsprozesse auf verschiedenen Ebenen aus.
Damit sind zentrale Ansatzpunkte der soziologischen Beschäftigung mit Nachhaltigkeit als gesellschaftlichem Phänomen bezeichnet. Denn aus soziologischer Perspektive sind sowohl der Aufstieg von Nachhaltigkeit als einem relevanten Thema als auch der Wandel von Nachhaltigkeitsverständnissen sowie der damit verbundenen Handlungs- und Beziehungsformen erklärungsbedürftig.
Nachhaltigkeit und Soziologie
Entlang einer Genealogie der Nachhaltigkeit lassen sich soziologisch zunächst der Ursprung und Bedeutungswandel von Nachhaltigkeit sowie eine Vervielfältigung der mit Nachhaltigkeit verbundenen Zielsetzungen offenlegen (Pfister et al. 2016). Der Nachhaltigkeitsbegriff wurde bereits im frühen 18. Jahrhundert in Carl von Carlowitz‘ Schrift Sylvicultura Oeconomica (1713) als ein Handlungsprinzip etabliert, um eine dauerhafte Ressourcenbewirtschaftung zu ermöglichen. Forstwirtschaftliche Fachkreise reagierten damit auf die zunehmende Ausbeutung des Waldbestandes für den Schiffs- und Bergbau. Erst im Zuge der Diagnosen einer umfassenden Umwelt- und Energiekrise wurde der Begriff seit den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der internationalen Umweltpolitik und -bewegung verwendet. Einen wesentlichen Einschnitt und Fixpunkt in der Begriffsgeschichte stellt die Definition der Brundtland-Kommission dar. Diese etablierte in der Folge ein gerechtigkeitstheoretisches Kernverständnis, das über den ökologischen Selbsterhalt hinausgeht und bis heute nachwirkt: Nachhaltigkeit bezeichnet demnach eine Entwicklung, die die Bedürfnisbefriedigung der gegenwärtigen Generation und damit im Kern auch die Beseitigung absoluter Armut ermöglicht (intragenerative Gerechtigkeit), ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen (intergenerative Gerechtigkeit). Infolge der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (1992), der Agenda 21 sowie in Deutschland der Enquete-Kommission des Bundestages (1994) setzte sich zunehmend ein Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit durch, das auf die Bedeutung ökologischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungsfaktoren und -indikatoren abstellt. Nachhaltigkeit wurde damit nicht nur für soziale Bewegungen und politische Akteure attraktiv, sondern durch Vorstellungen ökonomischer Nachhaltigkeit und eines nachhaltigen Wachstums zudem Gegenstand unternehmerischer Strategien. Auch die im Jahr 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs) sind von diesem Mehrsäulen-Modell der Nachhaltigkeit und der Idee einer ökologischen Modernisierung durch nachhaltiges Wachstum geprägt.
Eine Erklärung für den Aufstieg und Wandel von Nachhaltigkeit ist demnach, dass das Konzept im Zuge seiner Popularisierung und Ausdifferenzierung von sehr unterschiedlichen Akteuren und Milieus mit jeweils eigenen Bedeutungsinhalten gefüllt und mit verschiedenen Inhalten verbunden werden konnte. Als Reaktion auf die zunehmende Verwässerung des ökologischen Nachhaltigkeitsverständnisses und die Pluralisierung von Konzeptualisierungen, wurde zur Systematisierung des Diskurses die Unterscheidung zwischen schwachen und starken Nachhaltigkeitskonzepten eingeführt (Ott/Döring 2008). Während schwache Nachhaltigkeitskonzepte davon ausgehen, dass es keine absoluten ökologischen Grenzen des Wachstums gibt, da diese durch den Aufbau von sozialem und ökonomischem Kapital substituiert werden könnten, gehen starke Nachhaltigkeitskonzepte davon aus, dass Naturkapital nicht ersetzbar ist. Nachhaltigkeit lässt sich somit als ein konfliktreiches Diskursfeld bestimmen, in dem verschiedene Akteure um die Vorherrschaft ihrer Deutungsmuster ringen. Insbesondere stehen sich hierbei auf der einen Seite ein vorherrschender Diskursstrang des nachhaltigen Wachstums sowie auf der anderen Seite Diagnosen der Grenzen des Wachstums sowie kapitalismuskritische Nachhaltigkeitsvorstellungen konflikthaft gegenüber (Brand 2014, AK Postwachstum 2016, Fladvad et al. 2020).
In der Soziologie hat sich bereits in den 1990er Jahren eine kontroverse Debatte über den Stellenwert des Nachhaltigkeitskonzepts für Prozesse des sozialen Wandels entwickelt (Brand 1997). Die Soziologie als Ganzes gibt hierbei kein bestimmtes Verständnis von Nachhaltigkeit vor. Nachhaltigkeit ist für den soziologischen Blick vielmehr zunächst einmal etwas, das in seiner gesellschaftlichen Entstehung und Aushandlung, seiner zunehmenden Diffusion, Differenzierung und Veralltäglichung aus unterschiedlichen Perspektiven beobachtet, verstanden, erklärt und kritisiert werden kann. Die Vielfalt von soziologischen Konzepten und theoretischen Perspektiven sowie der normativen und methodischen Zugänge, mit denen der Gegenstand ‚Nachhaltigkeit‘ untersucht wird (für eine Übersicht hierzu siehe etwa SONA 2021), führten auch in der jüngeren Vergangenheit zu Debatten darüber, was soziologische Nachhaltigkeitsforschung genau sein und leisten sollte (zum Beispiel in den Fachzeitschriften Soziologie und Nachhaltigkeit 2019 und Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 2021). Die Positionen reichen hierbei von einer soziologischen Nachhaltigkeitsforschung, die keine eigenen Transformationsambitionen hegt, sondern ihren Fokus auf die empirische Beobachtung und theoretische Reflexion von Nachhaltigkeitssemantiken und -praktiken legt, über Ansätze, die kritisches Orientierungswissen für eine Nachhaltigkeitswende produzieren wollen bis zu einer involvierten Transformationsforschung, die sich die Ziele der Nachhaltigkeitspolitik und -bewegung zu eigen macht (Newig et al. 2019). Eine Soziologie der Nachhaltigkeit umfasst somit eine dreifache deskriptiv-analytische, praktisch-politische und kritisch-normative Reflexivität (SONA 2021).
Soziologische Perspektiven auf Nachhaltigkeit
Ausgehend von der Annahme, dass Menschen, wenn sie richtig informiert sind, vernünftige und autonome Entscheidungen treffen können, ist es seit den 1970er Jahren das Ziel von wissenschaftlichen und politischen Kampagnen, die Öffentlichkeit über die sozial-ökologische Krise aufzuklären. Umfragen (z.B. Schipperges 2020) zeigen zwar, dass sich auch in Deutschland in der Bevölkerung inzwischen ein breites Bewusstsein über Umweltprobleme entwickelt hat, der Einfluss dieses ökologischen Bewusstseins- und Wertewandels auf das tatsächliche Verhalten jedoch nur schwach ausgeprägt ist. Ökologische Einstellungsaspekte spielen zwar in sogenannten Low-Cost-Situationen, d.h. relativ leicht in den Alltag zu integrierenden und häufig anzutreffenden Verhaltensweisen, eine Rolle. Bei hohem Aufwand (nicht nur monetärer, sondern auch zeitlichen und sozialen Kosten) ist die Entscheidung für oder gegen umweltfreundliche Verhaltensweisen jedoch durch Kosten-Nutzen-Abwägungen bestimmt und führt häufig zu nicht-nachhaltigem Verhalten (klassisch dazu: Diekmann/Preisendörfer 1998).
Eine grundlegende soziologische Kritik an diesem Forschungszugang ist, dass die Zentrierung des Problems auf rationale und autonome Handlungssubjekte und auf die Annahme, dass die Summe ihrer veränderten Verhaltensmuster eine Nachhaltigkeitstransformation initiieren könne, daran mitwirkt, Probleme wie den Klimawandel individuellen Akteuren zu überantworten (Shove 2010). Die Verantwortungszuschreibung auf einzelne Konsument*innen ermöglicht es machtvollen Akteuren in Politik und Wirtschaft zudem, Nachhaltigkeitsprobleme zu individualisieren und de-politisieren (Henkel et al. 2018). Strukturelle Ursachen in Politik und Wirtschaft für die anhaltende Nicht-Nachhaltigkeit sowie der ungleiche Zugang zu Machtpositionen bleiben so ausgeblendet.
Praxistheoretische Ansätze fokussieren dagegen nicht auf das individuelle Entscheidungsverhalten von Menschen, sondern begreifen soziale Praktiken als zentralen Untersuchungsgegenstand. So werden aus dieser Perspektive z.B. das Fahrrad- oder Autofahren, das Duschen, oder das Heizen mit Blick auf die historisch gewachsenen und sich verändernden Bedeutungen, Materialitäten, Kompetenzen und Infrastrukturen untersucht, die für die jeweilige räumliche und zeitliche Realisierung dieser Praktiken prägend sind (Görgen 2020). Auf diese Weise wird z.B. das Autofahren nicht als Entscheidung eines autonomen, rational abwägenden Akteurs modelliert, der sich für oder gegen dieses Verhalten entscheidet, sondern als eine soziale Praxis, die tief in die symbolisch-materielle Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung integriert und mit zahlreichen anderen sozialen Arbeits- und Freizeitpraktiken verbunden ist (Manderscheid 2021). Technische Innovationen wie der Ersatz des Verbrenner- durch einen Elektromotor sind aus dieser Perspektive kaum in der Lage, etwas an den Grundproblemen eines auf den energieintensiven Individualverkehr ausgerichteten Mobilitätsregimes zu verändern. Potenziell werde zudem das Problem des sozial ungleichen Zugangs zu Mobilität noch verschärft. So gesehen wäre ein disruptiver Bruch mit dieser Mobilitätsform erforderlich, um die verschiedenen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
In ähnlicher Weise konzipieren Ansätze, die sich einer gesellschaftstheoretischen Tradition zuordnen lassen, Nachhaltigkeit aus einer reflexiv-kritischen Perspektive. Gegen die in der Wirtschaft und Politik weitverbreitete Annahme, dass eine Transformation zu einer Gesellschaft der Nachhaltigkeit bereits begonnen habe, werden grundsätzliche Einwände vorgebracht. Zwar liegen politische Lösungen in vielen Bereichen durchaus vor, jedoch würden diese nicht umgesetzt. So ginge es darum, die Ursachen für ihre Nicht-Umsetzung und für die nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit der Gesellschaft zu ermitteln (Blühdorn et al. 2020). Hierbei gelte es auch unbequeme Fragen nicht auszusparen: Wird Umweltschutz nur solange akzeptiert, wie er materiellen Wohlstand und Wirtschaftswachstum nicht gefährdet? Ist die Rede von Nachhaltigkeit nicht allzu häufig ein großes Programm der Selbstillusionierung, mit der Regierungen, Unternehmen und Konsument*innen simulieren nachhaltig zu sein, obwohl sie es nicht sind? Sind westliche Nachhaltigkeitsdiskurse nicht auch Bestandteil einer imperialen Externalisierungsgesellschaft, die ökologische und soziale Kosten systematisch in andere Teile der Welt auslagert (Lessenich 2016)? Ein weiterer Ansatz zielt darauf, ausgehend von einem analytischen Nachhaltigkeitsverständnis, die Dilemmata zu untersuchen, die sich aus Zielkonflikten, heterogenen Akteuren, Zeithorizonten oder Wissensformen bei jeder konkreten Intervention für Nachhaltigkeit ergeben (Henkel et al. 2023, Wendt/Köhrsen 2022). Aus der Überlegung, dass unterschiedliche Verständnisse von Nachhaltigkeit zu verschiedenen Wegen einer nachhaltigen Entwicklung führen, resultiert auch die Frage nach der Verantwortung für diese Entwicklung. Eine Attribution von Verantwortung auf Konsument*innen, Industrie oder auch Wissenschaft geht jeweils mit der Entlastung und Verlagerung von Verantwortung einher (Henkel et al. 2018). Weiterhin kann der Bezug auf Nachhaltigkeit auch selbst als Problem gesehen werden, insofern Nachhaltigkeitspolitik im Rahmen einer kapitalistischen Moderne, soziale Ungleichheiten eher reproduziert denn abschwächt (Neckel et al. 2018). Ökologische Distinktion wird in diesem Kontext als ein Mechanismus offengelegt, der es vor allem Angehörigen der (oberen) Mittelschicht erlaubt, ihre Lebenspraktiken als wünschenswert und wertvoll zu inszenieren (etwa durch den Konsum biologischer Lebensmittel), während mit benachteiligten Milieus assoziierten Praktiken (Verzehr von „Billigfleisch“) im Rahmen einer Form des symbolischen Klassenkampfes abgewertet werden. Nachhaltigkeit kann ferner auch im Sinne eines neuen Rechtfertigungsmusters theoretisiert werden, an dem sich gesellschaftliche Akteure (z.B. Unternehmen aber auch Einzelne) zunehmend messen müssten, sodass die Integration dieser Kritik den Kapitalismus zwar stabilisiert, aber zugleich Prozesse des sozialen Wandels initiiert. Demgegenüber kann Nachhaltigkeit jedoch auch als ein Maßstab der Kritik dienen, um alternative Pfade einer postkapitalistischen Nachhaltigkeitsgesellschaft zu erkunden (Dörre 2021).
Die genannten gesellschaftstheoretischen Perspektiven zeichnen sich dadurch aus, dass Nachhaltigkeit zu gesellschaftlichen Dynamiken in Beziehung gesetzt, d.h. Prozesse der Ordnungsbildung und Ursachen für Stabilität und Wandel untersucht werden. Sie thematisieren wechselseitige Bedingungsverhältnisse zwischen sozialen Strukturen und Machtverhältnissen einerseits sowie sozialen Selbstbeschreibungen und Wissensbeständen andererseits. Neben wirtschaftlichen und politischen Prozessen zählen hierzu das Verhältnis zur Wissens- und Technikentwicklung oder Untersuchungen zur Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs. Nachhaltigkeit kann gesellschaftstheoretisch demnach in verschiedenen Hinsichten analysiert werden: als Wissen, das mit sozialen Positionen korrespondiert; als Leitnorm einer sozio-strukturellen Veränderung, die gesellschaftlichen Wandel mit sich bringt; oder als umkämpfte Semantik, deren Ausdeutung ihrerseits Teil gesellschaftlicher Veränderungsprozesse ist.
Zum Weiterdenken
In Anbetracht der Vielzahl an in der Gesellschaft auffindbaren Nachhaltigkeitsbedeutungen geben soziologische Perspektiven in der Regel kein bestimmtes Verständnis von Nachhaltigkeit vor, sondern untersuchen ihre jeweilige Entstehung, Aushandlung, Diffusion, Differenzierung und Veralltäglichung. Soziologische Nachhaltigkeitsforschung macht darauf aufmerksam, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung von Umweltproblemen zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Konzepten verbunden war (Ökologie, Nachhaltigkeit, sozial-ökologische Transformation, Resilienz) und betont die Komplexität, Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit von Nachhaltigkeitstransformationen. Nicht-Nachhaltigkeit lässt sich beispielsweise nicht ohne weiteres auf die individuellen Entscheidungen für oder gegen bestimmte nachhaltige oder nicht-nachhaltige Optionen zurückführen. Vielmehr sind Entscheidungen und diese sozialen Praktiken tief in gesellschaftlichen Ordnungsgefügen der Gegenwartsgesellschaft verankert. Nachhaltigkeitssemantiken können daher auch sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen: Sie können dem Greenwashing und der Selbsttäuschung dienen, als Maßstab genutzt werden, mit dem soziale Ungleichheiten und Umweltzerstörungen kritisiert werden sowie Prozesse der Ordnungsbildung und des sozialen Wandels anleiten. Im Einzelfall gilt es damit stets zu berücksichtigen wie ‚Nachhaltigkeit‘ konkret sozial eingebettet ist und welche Interessen und Machtkämpfe hier jeweils zum Ausdruck kommen.
Zum Weiterlesen
Fladvad, B./Hasenfratz, M./Koschorke, A./Wagner, P./Paul, H./Adloff, F./ Nickel, S. (2020): Imaginationen von Nachhaltigkeit. Katastrophe. Krise. Normalisierung. Frankfurt am Main: Campus.
Barth, T./Henkel, A. (2020). 10 Minuten Soziologie. Nachhaltigkeit. Bielefeld: transcript.
SONA (2021): Soziologie der Nachhaltigkeit. Bielefeld: transcript.
- AK Postwachstum (2016): Wachstum, Krise und Kritik. Die Grenzen der kapitalistisch-industriellen Lebensweise. Frankfurt a.M.: Campus.
- Blühdorn, I./Butzlaff, F./Deflorian, M./Hausknost, D./Mock, M. (2020): Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. Bielefeld: transcript.
- Brand, Karl.-W. (1997): Nachhaltige Entwicklung. Eine Herausforderung an die Soziologie. Wiesbaden: Springer VS.
- Brand, K.-W. (2014): Umweltsoziologie. Entwicklungslinien, Basiskonzepte und Erklärungsmodelle. Weinheim: Beltz Juventa.
- Diekmann, A./Preisendörfer, P. (1998): Umweltbewußtsein und Umweltverhalten in Low- und High-Cost-Situationen. Eine empirische Überprüfung der Low-Cost-Hypothese. Zeitschrift für Soziologie, 27. Jg., Heft 6, S. 438-453.
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Anna Henkel ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Passau.
Jens Köhrsen ist Associate Professor für Soziologie an der University of Oslo.
Thomas Barth ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer am Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.